Theologie als Hermeneutik
»Was bringt mir das eigentlich, wenn man die Bibeltexte so in ihre Einzelteile zerhackt? Das bringt mir doch nichts für mein Leben.« Kerstin, 17 Jahre
Bliebe Theologie bei der historisch-kritischen Analyse der biblischen Schriften stehen, käme sie über die bloße Beschreibung von historischen Sachverhalten nicht hinaus. Sie wäre – vielleicht ähnlich wie die Ägyptologie oder Assyriologie – eine interessante Forschungsdisziplin für einige Spezialisten, hätte aber nur sehr wenig Relevanz für die Gestaltung unserer heutigen Lebenswelt.
Hermeneutik = Lehre vom Verstehen von Texten
Von einem wirklichen Verstehen der biblischen, aber auch anderer Texte lässt sich jedoch erst dann sprechen, wenn wir versuchen, die Aussagen dieser Texte auf uns selbst zu beziehen und den Anspruch der Texte auch als Herausforderung für unser eigenes Leben zu sehen. Die theoretische Reflexion dieses Verstehensprozesses bezeichnet man als Hermeneutik (Lehre vom Verstehen; Auslegekunst; von griech. hermēneúein = »auslegen«, »erklären«).
Verstehen ist ein offener, nie ganz abgeschlossener Prozess.
Jeder Leser geht mit einem bestimmten Vorverständnis an einen Text heran.
Typisch für den Vorgang des Verstehens ist zunächst, dass Verstehen ein offener, nie ganz abgeschlossener Prozess ist. Ich kann noch so viel Zeit und Mühe auf die Interpretation eines Textes verwenden, er wird nie endgültig interpretiert sein, sondern wird einem anderen Interpreten oder auch mir selbst zu einem anderen Zeitpunkt in einem völlig anderen Licht erscheinen. In der Hermeneutik verwendet man in diesem Zusammenhang die Begriffe »Vorverständnis« und »Horizontverschmelzung«. Ich, der ich im Horizont einer reichen Industriegesellschaft am Beginn des dritten Jahrtausends nach Christus lebe, gehe mit einem ganz bestimmten Vorverständnis, das u.a. auch durch meinen persönlichen biographischen Hintergrund geprägt ist, an einen Text heran, der in einem ganz anderen Lebenshorizont, z.B. zur Zeit Jesu in einer Agrargesellschaft, entstanden ist, und nehme ihn natürlich auch nur unter dem Blickwinkel dieses Vorverständnisses wahr.
Leserhorizont und Texthorizont müssen »verschmelzen«. Dadurch wird der Leserhorizont verändert.
Meine ich, die Aussage des alten Textes verstanden zu haben, »sagt er mir etwas«, dann kommt es zu einer »Verschmelzung« von Leserhorizont und Texthorizont. Durch diese Auseinandersetzung mit dem alten Text verändern sich aber das Vorverständnis und der Horizont des Lesers – sei es auf dramatische Art wie bei Luthers Studium des Römerbriefs, sei es fast unmerklich –, und wenn der Leser den Text nun noch einmal liest, dann liest er ihn nicht mehr so wie beim ersten Mal, und es kommt somit zu einer neuen Horizontverschmelzung, die wiederum das Vorverständnis und den Lebenshorizont des Lesers verändert. Es handelt sich beim Verstehen also – ganz anders als bei der naturwissenschaftlichen Erkenntnis – um einen zirkulären Vorgang, der aber durchaus produktiv ist und keineswegs den Charakter eines Teufelskreises haben muss. Man spricht deshalb auch von »hermeneutischen Zirkeln«, denen das Verstehen unterliegt. So besteht z.B. eine Wechselbeziehung zwischen dem Teil und dem Ganzen eines Textes. Ich kann die Bedeutung eines Bibelverses einerseits erst dann verstehen, wenn ich den Textzusammenhang, in dem der Vers steht, verstanden habe (weshalb es auch den Regeln der Hermeneutik widerspricht, einzelne Bibelstellen, aus ihrem Zusammenhang gerissen, als Argumente zu benutzen!), andererseits kann ich den Text als Ganzes doch auch nur dann begreifen, wenn ich jeden einzelnen Satz des Textes verstanden habe.
Hermeneutische Zirkel sind notwendige Zirkel.
»Erst jetzt, wo ich mich fürs mündliche Abi mit dem ganzen Stoff intensiver beschäftigt habe, verstehe ich, was das alles soll …« Annette, 19 Jahre
→ „jahwistischer“ Schöpfungstext
Ein weiterer hermeneutischer Zirkel zeigt sich darin, dass ich einen biblischen Text (z.B. 1. Mose 1,1–2,4a) oft erst dann richtig verstehen kann, wenn ich mich in die Zeit, in der er entstanden ist (also das babylonische Exil) hineinversetzen kann. Andererseits
Die Bibel: Gottes Wort oder Menschenwort? 41
Vier Arten des Bibelverständnisses:
Eine Frage des Vorverständnisses im hermeneutischen Sinn ist es auch, welchen Stellenwert und welche Bedeutung man der Bibel überhaupt beimessen will. Um dieses Thema, um das nicht selten höchst emotional unter der Alternative »Gottes Wort oder Menschenwort?« gestritten wird, sachlich diskutieren zu können, empfiehlt es sich, zwischen vier verschiedenen Arten des Bibelverständnisses zu unterscheiden:
– Die Bibel ist eine Sammlung von alten Schriften, die uns heute nichts mehr zu sagen hat.
• Man kann, erstens, die Bibel ähnlich wie Texte aus dem alten Ägypten als eine Sammlung von alten Schriften betrachten, deren Vorstellungswelt von den Fragen und Problemen unserer Zeit so weit entfernt ist, dass sie uns heute kaum mehr etwas zu sagen haben.
– Die Bibel ist untrennbar mit unserer Kultur- und Geistesgeschichte verbunden. Es lohnt sich deshalb, sich auch heute noch mit ihr zu beschäftigen.
• Man kann, zweitens, – vermutlich mit wesentlich besseren Argumenten – die Bibel als eine Sammlung von alten Schriften betrachten, von der kultur- und geistesgeschichtlich solch intensive und nachhaltige Impulse ausgegangen sind und die so viele interessante Gedanken enthält, dass es sich zumindest für einen gebildeten Mitteleuropäer auch heute noch lohnt, sich mit ihr, vielleicht ähnlich wie mit den Schriften griechischer Philosophen, zu beschäftigen.
Während für diese beiden Arten des Bibelverständnisses die biblischen Texte recht eindeutig »Menschenwort« sind, gehen Christinnen und Christen davon aus, dass die Bibel mehr für sie ist als andere Schriften des Altertums. Christinnen und Christen betrachten die Bibel als ein Dokument von Glaubenserfahrungen, das auch für heutige Menschen noch unaufgebbare und einmalige Wahrheit enthält und für die Gestaltung des christlichen Glaubenslebens unerlässlich ist. Sie bezeichnen es deshalb auch als »Heilige Schrift« oder »Gottes Wort«. Was dies im Einzelnen bedeutet, ist nun allerdings sehr umstritten:
– Die Bibel ist »Gottes Wort« an uns, und zwar in einem ganz unmittelbaren und wörtlichen Sinn. Als »Gottes Wort« ist sie unfehlbar.
»Was ich an den Pietisten toll finde, ist, dass sie ihren Glauben ganz ernst nehmen und auch versuchen, im Alltag danach zu handeln …« Matthias, 20 Jahre
• Eine besonders im Pietismus beheimatete Lesart der Bibel möchte diese in dem Sinn als »Gottes Wort« verstanden wissen, dass aus jedem Satz, aus jedem Kapitel der Bibel ganz unmittelbar und ungebrochen Gott zu uns spricht. Zwar wird nur selten davon ausgegangen, dass Gott selbst die biblischen Bücher verfasst hat, aber es wird doch – und zwar ohne dass man das letztlich begründen könnte – behauptet, die Menschen, die die biblischen Schriften verfasst haben, seien von Gott »inspiriert« gewesen, und es könnten ihnen deshalb auch keine Fehler, Irrtümer, Ungereimtheiten oder gar Widersprüche unterlaufen sein. Wer die Bibel so liest, neigt dazu, historisch-kritischer Bibelforschung sehr skeptisch gegenüberzustehen und in ihr eher eine Bedrohung als eine Bereicherung des Glaubenslebens zu sehen. Die Problematik eines solchen, »fundamentalistisch« genannten Bibelverständnisses, 42das durch seine existentielle Ernsthaftigkeit, sein persönliches Engagement und seine große Konsequenz oft sehr beeindruckend sein kann, liegt darin, dass man viele Aussagen der Bibel nur mit Mühe unmittelbar auf unsere heutige Gegenwart übertragen kann. Welcher Christ möchte heute noch die Speisegesetze des Alten Testaments (vgl. 5. Mose 14,3–21) zum Maßstab seiner Ernährung machen? Wer wollte Spr 13,24 (»Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten.«) ernsthaft zum Grundsatz christlicher Erziehung erheben? Welche Christin kann im Zeitalter der Gleichberechtigung 1. Kor 14,33f. (»Wie in allen Gemeinden der Heiligen sollen die Frauen schweigen in den Gemeindeversammlungen; denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen […]«) einfach so hinnehmen?
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