Auch der andere zog flussaufwärts. Flussabwärts waren wir geschlagen. Uns blieb keine andere Wahl, solange wir keinen See oder Seitenarm des Flusses erblickten, wo wir uns hätten trennen können.
Doch dann änderte sich alles schlagartig. Er fischte im Fluss, und ich fischte, und eine Weile ging alles gut. Hier oben war der Fluss schon ziemlich schmal, und ich flog gelegentlich Scheinmanöver, ganz weite Schleifen, um den anderen auf Distanz zu halten. Hier im Oberlauf war das Wasser nämlich schon kristallklar, es führte noch nicht so viele Schwebepartikel mit sich wie weiter unten, und so waren auch die Fische ganz klar auszumachen, wenn sie sich bewegten, aber es gab nicht mehr viele zu sehen. Forellen gab es schon noch zahlreich, aber sie waren so schlau und geschickt, dass sie sich zwischen Geröll im Flussbett versteckten und sich nur selten verrieten. So wurde das Fischen zunehmend schwieriger.
Ich sah eine Forelle nach einem Insekt an der Wasseroberfläche schnappen, und ich war nahe genug, um herabzustürzen und sie gerade noch zu krallen. Ich flog mit ihr zu einem umgestürzten Tannenstamm, dessen Wipfel im Fluss lag. Dort wollte ich mich gerade dem Fisch widmen, der sich noch in meinen Fängen bog, da kam der andere herbeigeschwenkt. Er ließ sich ebenfalls auf dem Baumstamm nieder und hüpfte zu mir heran. Ich zischte vor Wut. Als er nach dem Fisch schnappen wollte, hackte ich erregt nach ihm. Meine Situation war ungünstig: Loslassen wollte ich den Fisch nicht, und während ich ihn verteidigte, musste ich ziemlich verkrampft auf dem Baumstamm balancieren, einen Fuß auf dem Stamm und einen auf dem Fisch.
Ich spreizte meine Flügel fächerförmig und schirmte so meine Beute ab. Nachdem ich noch ein paarmal entschlossen nach dem anderen gehackt hatte, rückte er von mir ab und sah mir missmutig beim Fressen zu. Ich behielt ihn ständig im Auge.
Nach einer Weile flatterte er auf den Boden herab, wohl in der Hoffnung, dass ich die Mittelgräte des Fisches herabfallen lassen würde, denn er war zu groß, um ihn im Ganzen zu kröpfen.
Doch ich war sehr hungrig und hackte hastig an dem Fisch herum. Sogar den Kopf verschlang ich. Dann schüttelte ich mich; erst als ich alles verschlungen und in mir in Sicherheit gebracht hatte, wich die innere Anspannung, und ich wurde ruhiger. Ich begann, mein zerzaustes Gefieder zu glätten. Dann fiel mir der andere wieder ein, der immer noch unter dem Baumstamm wartete, und wutentbrannt stürzte ich mich auf ihn. Was hatte er hier eigentlich zu suchen? Zum ersten Male war ich es, der einen anderen verjagte, und unbewusst begann ich, dieses Gelände als mein Revier zu betrachten. Bei uns Adlern zumindest ist es so: Wo du nicht gerade selber vertrieben wirst, da erhebst du automatisch Gebietsansprüche und betrachtest das Terrain als deins. Kennst du das auch von anderen Wesen?
Überrascht flog der andere auf, und das bestärkte mich und machte mich übermütig. Es machte mir richtig Spaß, ihn zu verfolgen, und so entschlossen war ich, dass es ihm gar nicht in den Sinn kam, sich umzudrehen und mich seinerseits zu attackieren. In mir festigte sich immer mehr das Anspruchsgefühl auf diesen Uferabschnitt.
Der andere suchte das Weite, ließ sich aber doch noch in meinem Gesichtskreis auf einem hohen, halb abgestorbenen Ahorn nieder. Ich ließ von ihm ab, denn die Verfolgungsjagd kostete auch Energie, und ich hatte zu lange zu wenig gefressen, um Energie vergeuden zu können. Dennoch betrachteten wir uns seit jener Begebenheit als Rivalen.
Aber es mussten mehrere Sommer und Winter vergehen, ehe ich erwachsen wurde und das Frühjahr nahte, in dem ich meine Adlerfrau kennen gelernt habe, und das war nicht kampflos. Wir lebten als Reviernachbarn wohl drei Jahre. Inzwischen begannen unsere Köpfe, weiß wie Schnee zu leuchten. Gelegentlich überflogen Artgenossen unser Gebiet, doch keiner machte uns ernsthaft Konkurrenz. Wir selbst hatten an der Reviergrenze ab und zu kleinere Scharmützel.
Ganz explosiv brach unsere Rivalität dann auf, als sich etwas für uns ganz Neues, ganz Faszinierendes ereignete. Ein weiterer Adler tauchte als Silhouette am Horizont auf. Nun ist ein Artgenosse an sich noch nichts Besonderes. Aber diese kräftige Gestalt war die einer jungen Adlerin.
Die Weiden und Birken am Fluss waren zu dieser Zeit schon hauchzart grün, und die Pappeln blühten mit lustig flatternden Kätzchen. Auch in uns Adlern hielt das Frühjahr mit einem Prickeln im Blut Einzug. Der Anblick der jungen Adlerin war ein Fanal.
Wir beeilten uns beide, so sehr wir konnten, ihr entgegenzufliegen und sie zu umkreisen. Alle drei waren wir sehr nervös, denn wir konnten uns nicht verbal verständigen. Nur unser Flugverhalten und unser gegenseitiges Taxieren konnte uns zeigen, wer wir waren, dazu vielleicht ein sehnsuchtsvoller oder wütender Schrei.
Wir umkreisten uns: rasch, wild, voller Unruhe. Lauernd und neugierig behielten wir uns pausenlos gegenseitig im Blick. Im hellblauen Frühlingshimmel kurvten wir, umkreisten uns wie lebendige Fragezeichen, unermüdlich, fast unerbittlich. Ein Adlerweibchen ist kräftig und robust. Im Adlermann weckt es keine Beschützerinstinkte. Du denkst nur an deinen Nebenbuhler, dem du diese Frau nicht gönnst.
Die Adlerin war den frischen Federn nach genauso alt wie wir: ein gerade erwachsener Jungvogel, der bisher umhervagabundiert ist und nun eine feste Bleibe sucht. Sie hatte keinen Partner. Der wäre schon aufgetaucht. Wie magisch von ihr angezogen umkreisten wir sie und blieben dabei untereinander auf maximaler Distanz, peinlich darauf bedacht, dass keiner dem anderen eine Flugschleife abschneiden konnte.
Dann hielt es der andere nicht mehr aus. Er stieß einen schrillen, erwartungsvollen Schrei aus. Das versetzte mich in Wut. Sofort attackierte ich ihn. Ich versuchte, ihn zu vertreiben. Doch diesmal vergebens. Von einem Beutefisch ließ er sich von mir noch fortjagen, von einer Adlerin nicht. Erbittert wandte er sich in der Luft um, flog in einem überraschenden Bogen unter mir durch und hinter mir hoch und attackierte mich von hinten. Plötzlich war er der Verfolger. Wir wirbelten in der Luft umeinander und hieben mit den Klauen aufeinander ein. Doch wo war die Adlerin? Als wir erhitzt von dem Luftkampf abließen und jeder in die entgegengesetzte Richtung eine Beobachtungsschleife flog, da sahen wir sie scheinbar gleichgültig auf einer Baumkrone sitzen. Sofort eilten wir wieder zu ihr.
Das Spiel hatte mit Liebe nichts zu tun. Sie hatte keine Lust, uns mit leerem Magen zuzusehen, und so wich sie uns zunächst aus und flog dann ungerührt fischen. Wir wagten es beide nicht, ihr den Fisch streitig zu machen, irgendwie war da eine Sperre, die es verhinderte, sie als Konkurrentin zu sehen.
Doch sobald sie den Fisch gefressen hatte, begann die Unruhe von neuem. Der andere flatterte auf die Adlerin zu und machte ihr Avancen. Sie dachte aber gar nicht daran, ihn nahekommen zu lassen, solange der Streit zwischen uns nicht entschieden wäre.
Ohnehin hätte ich nicht tatenlos zugesehen. Ich stürzte mich erneut wutentbrannt auf den frechen Werber. Wieder flogen die Federn. Die Adlerfrau sah jetzt interessiert zu. Plötzlich gewann sie offenbar Gefallen an der Sache und startete mit wuchtigen Flügelschlägen. Sie griff ins Kampfgeschehen ein, indem sie uns durch Scheinattacken trennte. Wieder begannen wir, abwartend umeinander zu kreisen.
Den Rest entschied ein Faktor, der hinter den Raufereien und Luftmanövern für einen Menschen gar nicht zu erkennen gewesen wäre: die Harmonie. Ich muss das erklären: Die größere Harmonie zwischen der Adlerin und einem von uns beiden war sogar wichtiger als unsere Kampfstärke. Während wir uns alle drei abwartend umkreisten, merkte ich plötzlich, dass ich mit der Adlerin häufiger Kreise umeinander flog als der andere. Hin und wieder attackierten wir männlichen Adler uns, aber es blieb bei einer Pattsituation. Die Adlerin flog uns indessen aufreizend davon und wir beeilten uns, wieder aufzuholen. Erneut umkreisten sie und ich uns häufiger und in perfekteren Kreisen als sie und der andere. Ich begann, mich optimistisch zu fühlen.
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