Und abermals entstand eine peinliche Pause. Alle starrten ihn an, auch Alice, als ob sie eine Entschuldigung erwarten würden. Er schwieg. Er hätte gerne noch ein paar Worte gesagt. Aber aus Rücksicht auf Alice stellte er keine weiteren Fragen mehr.
Kurz danach verließen sie den Laden, schlenderten durch die sonntäglichen Straßen, spazierten über die Sihl in die Innenstadt und setzten sich in ein Café. Und dort, bei einem späten, zweiten Frühstück, schlug Alice vor, daß sie und er für Christina und Ali eine Art Einkäufer spielen könnten. Kiondos, Matten, Tücher. Eine Idee, in die sie sich augenblicklich verliebte.
Ali war begeistert. Natürlich, es ging ja gegen seinen Vater. Er rühmte den guten Geschmack seiner Mutter und schwärmte von den Möglichkeiten eines Direktimports. Höhere Gewinne. Etwas Besonderes. Ausgewählte Stücke. Die beiden redeten sich in einen wahren Begeisterungstaumel. Eine eigene Firma wollten sie gründen. ‹Mutter und Sohn›. Ganze Schiffsladungen wurden auf die Reise geschickt. Schon wurde der Laden in Zürich zu klein. In Bern, Basel, in Lausanne und Winterthur entstanden weitere Geschäfte. Ali erheiterte sie mit einer Solonummer. Er als Firmenboß, Zigarre rauchend inmitten einer unübersehbaren Kinderschar. Und selbstverständlich sollten seine Kinder allesamt unentbehrliche Stützen der Gesellschaft werden.
Christina merkte rascher als Mettler, daß es ihrer Schwiegermutter mit dem ausgefallenen Plan ernst war. Sie begann, Alice und Ali die Schwierigkeiten auszumalen, die mit dem Export von Kunst verbunden seien.
«Und ein schönes Schmuckstück ist ein Kunstwerk. Strenggenommen ist jede Ausfuhr sogar verboten. Auf jeden Fall braucht man dafür eine ganze Reihe von Verträgen und Bewilligungen, die man ohne gute Kontakte kaum bekommt …»
Alice und Ali lachten.
«Ich rede aus Erfahrung. Aber bitte, versuchen könnt ihr es ja. Ich will auch nicht ausschließen, daß ich und Ali …», und listig sonderte sie Ali aus den Plänen seiner Mutter aus, «… daß Ali und ich einmal zu deiner Kundschaft zählen. Nur, im Moment? – Ist der Zeitpunkt für Experimente nicht ein bißchen ungeschickt?»
Ali wollte widersprechen, doch Christina nahm Alis Hand und legte sie auf ihren Bauch.
Nun machte Alice das Angebot, sie könnte ja einmal eine Art Testlieferung zusammenstellen. Sie hätte früher gute Kontakte zu Frauengruppen gehabt, die sich bestimmt wieder auffrischen ließen. Und wieder überließen sich Alice und Ali ihren Verrücktheiten. Sie fanden immer neue Produkte, die sich in der Schweiz vermarkten ließen: Drahtautos, holzgeschnitzte Bücherstützen und Musikinstrumente, Siwas und Trommeln, Spieldöschen, Aschenbecher aus Seifenstein. Masken, Kangas, Salatbestecke. Ringe, Ketten und Kämme.
Mettler amüsierte sich köstlich. Als er begriff, daß Alice und Ali sich nicht nur in Gedankenspiele verstrickten, war es bereits zu spät. Die beiden ließen sich von ihren Plänen nicht mehr abbringen, und er, der sich allzu lange als Mitverschwörer beteiligt hatte, war nun plötzlich selbst in die Eselei verwickelt. Es half ihm nichts mehr, daß er aufhörte, den Luftschlössern der beiden Beifall zu spenden, daß er Christinas Konzept rühmte und ihre Kontakte lobte. Alice und Ali waren bereits dabei, das ‹Rafiki› zu verscherbeln.
Herrgott, was für ein Unsinn. Er hat keine Lust, das Hotel aufzugeben. Weder jetzt noch in ein paar Jahren. Alice und er gehören nach Lamu, das ‹Rafiki› ist ihr Zuhause. Aber seit dieser Hochzeit benützt Alice jede Mißstimmung zwischen ihnen, um ein Loblied auf die Vorzüge eines Lebens in Europa anzustimmen. Ein Leben, das sie gar nicht kennt, und das ihr nur deswegen reizvoll erscheint, weil sie in Zürich wohnen könnte. In der Nähe Alis. Und, er weiß es wohl, bei der Wiege ihres Enkels.
Der Regen hat aufgehört. Die Wolkendecke reißt auf, und ein schwacher Lichtstrahl läuft vom Wind übers Wasser gepeitscht auf den Strand zu, aufblitzend tänzelt er den Schaumkronen der Brandung entlang.
Der Schein aus dem Wolkenfenster, dessen Fetzenränder vom verdeckten Mond beleuchtet werden, hellt auch das Zimmer auf. Vor der Wand mit der schwarzen Holztüre dämmern die Laken des Bettes, der Baldachin des Moskitonetzes, und im Spiegel, der dem Bett gegenüber an der Wand hängt, entsteht Mettlers Silhouette, kaum wahrnehmbar, ein Schatten im Geviert.
Mettler dreht sich nach Alice um. Nur gerade die leicht gewölbte Linie ihrer Stirne, die Form von Kinn und Nase zeichnen sich vom Kissen ab. Schon die Locken der Haare verlieren sich in den Grautönen der Umgebung. Aus aufgeworfenen Tüchern taucht ein Knie, eine dunkle Sichel vor stumpfem Weiß. Rundungen und Kuhlen verschmelzen mit den Falten des Überwurfs.
Alice ist keine kleine, zierliche Frau, sondern groß und stattlich, eine selbstbewußte Inselkönigin. Ein Vergleich, den sie nicht gerne hört. Sie sei nie eine Prinzessin gewesen. Weder damals, als sie miteinander in die Dünen liefen, noch später, als sie neu verliebt das Hotel übernahmen. Trotzdem hält Mettler Alice für eine zerbrechliche Person. Eine Empfindung, die sich noch verstärkte, als Alice vor zwei Jahren ein Kind verlor.
Nur wenige Wochen nach seiner Bruchlandung auf dem Flugfeld von Lamu – er kehrte zusammen mit Tetu von einer Mission in den Mulika Range Nationalpark zurück – brachte Alice ein Kind zur Welt, mehr als drei Monate zu früh. Die Ärzte Lamus konnten es nicht retten. Fast schlimmer als der Verlust des Kindes aber war der Rat, Alice müsse eine weitere Schwangerschaft vermeiden. In einer späteren Untersuchung wurde sogar festgestellt, daß sie keine Kinder mehr bekommen könne.
Der Befund des Arztes stürzte Alice in ein Unglück, wie es Mettler nicht für möglich gehalten hätte. Nie erlebte er Alice so verzweifelt wie in den Wochen danach. Sie trauerte und weinte. Sie lamentierte, auch sie beide könnten nicht mehr zusammenbleiben. Sie glaubte, er könne doch keine Frau wollen, die ihm keine Kinder gebäre. Ihr Temperament, ihr Stolz, ihr ganzes Wesen waren in einer Weise verletzt, die er nicht verstand. Sie waren beide über vierzig. Ihm waren eigene Kinder nicht so wichtig. Im Gegenteil.
Sie sprachen viel miteinander. Von Liebe und Heirat und Kindern. Doch nur seine uneingeschränkte Zuwendung, seine Beweise, daß er sie nach wie vor begehrte, beruhigten sie ein wenig und erlösten ihn von der Angst, Alice zu verlieren. So richtig froh machte Alice allerdings erst die Mitteilung, daß Ali heiraten werde, daß ihre künftige Schwiegertocher ein Kind erwarte. Die Vorstellung, demnächst Großmutter zu werden, weckte ihre alte Unternehmungslust und erfüllte sie mit einem Eifer, dem er hilflos gegenüberstand.
«Warum bist du denn nicht im Bett?»
Alice richtet sich auf und schiebt sich ein Kissen in den Nacken. Mettler antwortet vorsichtig:
«Der Mond. In ein paar Tagen haben wir Vollmond, der Sturm, ich wollte dich nicht wecken …»
«Du machst dir Sorgen. Ich glaube nicht, daß es Schwierigkeiten geben wird. Eine so problemlose Schwangerschaft. Wie ich damals mit Ali. Vielleicht ist das Baby schon da. Vielleicht wird es gerade jetzt, gerade in diesem Augenblick geboren. Freust du dich?»
«Worauf? Daß ich Großvater werde?»
Alice setzt sich auf, lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand und zieht die Beine unters Kinn. Mettler wundert sich immer wieder, wie leicht Alice erwacht. Eben noch schien sie tief zu schlafen, und jetzt beginnt sie ein Gespräch, als hätte sie nur darauf gewartet, mit Fragen über ihn herzufallen.
«Wenn es ein Junge wird, könnte er das Hotel übernehmen. Was glaubst du, wird es ein Junge oder ein Mädchen? Was möchtest du lieber?»
«Ich? Natürlich einen Jungen. Dann ein Mädchen. Dann wieder einen Jungen, ein Mädchen …»
«So viele Kinder wird Christina nicht haben wollen. Du nimmst mich auf den Arm. Sie werden uns doch benachrichtigen?»
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