An einer Tür blieben wir stehen und betraten ein Zimmer. Dort saß ein junger Mann an einem kleinen, mit einem Wachstuch bedeckten Holztisch und stand auf, um uns zu begrüßen. Er war vielleicht zweiundzwanzig, mager und ging gebeugt. Er hatte ein feines schmales Gesicht und große mutige Augen, wie die von Henri Pitits Frau. Er ist ihr Bruder, dachte ich und registrierte das dünne braune Haar, das ihm ins Gesicht fiel. Er trug einen dunklen, ausgebeulten Pullover und einen grünen Wollschal um den Hals. Bevor wir kamen, hatte er geschrieben. Ein halb beschriebenes Blatt Papier lag auf dem Tisch neben einem Vogelkäfig mit einem kleinen grünen Vogel darin. Als wir auf den jungen Mann zugingen, lächelte er leicht, offensichtlich war ihm der Besuch eines Fremden peinlich. Henri stellte mich vor.
‹Das Abendessen ist gleich fertig.› Madame Pitit warf mir einen Blick zu. Dann zündete sie den Gaskocher an, der auf einer kleinen Holzkiste stand. Die weiche blaue Flamme loderte unter einer Blechdose auf, so groß wie ein Vierzigliter-Eimer für Schmalz. Sie enthielt eine schmutzig-graue Suppe, auf der Fettkügelchen schwammen. Das registrierte ich, als ich auf Drängen meines Gastgebers den einzigen Stuhl im Raum annahm. Ebenso, dass in der Flüssigkeit eine Karotte, ein oder zwei Kartoffeln und ein kleines Stück fettes Fleisch schwammen, kaum größer als der kleine grüne Vogel in seinem Holzkäfig auf dem Tisch.
Der Soldat setzte sich auf das Bett. Es schien, als hätten sie sämtliche Lumpen, die sie besaßen, daraufgelegt, um es warm zu haben. Da kein weiteres Bett zu sehen war, folgerte ich, dass die drei zusammen in dem einen schliefen. Der Dichter stand neben dem Herd und beobachtete, wie seine Schwester das Essen zubereitete, das heißt, Salz und Pfeffer in die Suppe streute. Brot, das wir dazu hätten essen können, gab es nicht.
Während ich am Tisch saß, hatte ich Gelegenheit, mich ein wenig umzusehen. Das Zimmer war etwa dreißig Quadratmeter groß. Ein kleines Fenster neben der Tür ging auf den schwach erleuchteten Hof hinaus. Die einzige Heizung war der Gaskocher, auf dem die Suppe brodelte. Neben dem Kopfende des Bettes auf der anderen Seite des Zimmers standen ein paar Holzkisten, die als Tische dienten und mit Büchern und Toilettenartikeln gefüllt waren. Der schmutzige Kachelboden war unbedeckt.
Dann war das Abendessen fertig. Meine Gastgeberin deckte den Tisch. Sie hatten nur zwei Teller und zwei Löffel. Einer von uns würde warten müssen, bis die anderen beiden gegessen hatten. Natürlich musste die Frau als Erste essen, darauf bestand ich, und der Ehemann bestand darauf, dass ich mit ihr aß, weil ich ihr Gast war. Er würde seine Suppe direkt aus einer kleinen Dose schlürfen, und der Dichter erklärte sich bereit, zu warten.
Ich bekam kaum einen Bissen runter. Die Suppe schmeckte gar nicht mal so schlecht, aber sie sah ekelhaft aus, und ihr Aroma wurde durch den Gestank aus der Toilette draußen nicht gerade besser. Obendrein machte es mich nervös, dass ein junger Mann, der die Suppe offensichtlich viel nötiger hatte als ich, wartete, dass ich fertig wurde, damit er essen konnte. Zudem konnte er den Blick kaum von dem Tisch abwenden, der die Mitte des Zimmers in Beschlag nahm. Trotz diverser Versuche, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, breitete sich immer wieder ein lähmendes Schweigen aus. Es erübrigt sich zu sagen, dass es mir schwerfiel, meine Gefühle zu verbergen, aber ich versuchte es, indem ich viel zu laut und zu hastig sprach und zu oft lachte oder lächelte. Ich glaube, dass ich sie sogar davon überzeugte, dass ich mich gut unterhielt – alle bis auf die Frau, die es besser wusste. Es gelang mir nicht, meine Verlegenheit und die eklatante Ironie der Tatsache, dass ich deutlich wohlhabender war als sie, vor ihrem gelassenen, vielsagenden Blick zu verbergen. Sie las das schlechte Gewissen in meinem Gesicht. Wenn sie ihre sanften Augen niederschlug, spürte ich die Last der grässlichen Reiseschecks in meiner Tasche (mehr als dreitausend Dollar), ich, der ihre schmutzige Suppe schlürfte und auf dem einzigen Stuhl saß.
Ich hätte ihnen einige davon abgeben können, aber ich traute mich nicht. Der Soldat hatte recht gehabt, sie waren wahre Franzosen. Mein Angebot hätte sie nur gekränkt, und ich hätte mich noch schlechter gefühlt als ohnehin schon. Also quälte ich mich durch den Abend, und es gelang mir tatsächlich, ihnen vor dem Einsteigen in die Metro das Versprechen abzuluchsen, in der kommenden Woche (zuerst hatte ich den folgenden Tag vorgeschlagen, aber sie sagten, da hätten sie bereits etwas vor) mit mir zu Abend essen, und entschuldigte mich gleichzeitig, dass wir in ein Restaurant gehen müssten, weil ich kein eigenes Zuhause hatte.
‹Machen Sie sich deswegen keine Sorgen›, sagte der Soldat. ‹Wir freuen uns, Sie kennengelernt zu haben und hoffen, dass wir uns wiedersehen.› – ‹Au revoir›, sagte die junge Frau mit den mutigen Augen sehr herzlich. Es war kaum mehr als ein Flüstern. Ich stieg in die Metro und verschwand, um mich dort nie wieder blicken zu lassen, aber diese herzergreifende und trotzdem lächerliche Szene, in der ich eine so mittelmäßige Rolle gespielt hatte, habe ich nie vergessen.»
Ein langes Schweigen folgte. Es dauerte etwa drei Minuten. Das willkürliche Stimmengewirr im Mövenpick sickerte in die nachdenkliche Stille der kleinen Runde um mich herum. Schließlich sah mich der Freund an, der mich dem neugierigen jungen Mann vorgestellt hatte, um dessentwillen ich dem ehrgeizigen Kellner so lange getrotzt hatte, und sagte in einem herausfordernden Ton:
«Ich wusste gar nicht, dass du in Amsterdam gewesen bist …»
«Das! … ist eine lange Geschichte», antwortete ich, um sie zu entmutigen.
«Erzähl», sagte er und fügte hinzu: «Und trink noch ein Glas Wein.» Ich nahm an. Kurz darauf brachte der Kellner den Wein. Wir stießen auf unsere Gesundheit an. Dann verstummte die kleine Gruppe. Ich begann …
Warum ich Amsterdam verlassen habe
«Tja, wäre ich damals ein bisschen mutiger gewesen», gestand ich, «hätte mir Amsterdam vielleicht besser gefallen. Da ich aber neu in Europa war, kam es mir so furchterregend vor wie Paris unfreundlich. Denn Amsterdam konfrontierte mich mit einem alten Problem und mehreren neuen, auf die ich nicht vorbereitet war.
Das alte Problem war natürlich die Sprache. Wenn man eine Sprache nicht beherrscht, ist man unsicher und argwöhnisch. Zum ersten Mal hatte ich das ungute Gefühl, ständig angestarrt zu werden. Aber in punkto Freundschaften erging es mir viel besser als in Paris. Der junge Schriftsteller, den ich auf dem Boulevard Saint-Michel getroffen hatte, hatte mir ein Empfehlungsschreiben für seine Freunde mitgegeben. Nachdem ich die erste Nacht in einem sehr angenehmen, aber teuren Hotel verbracht hatte, machte ich mich auf den Weg zu ihnen. Mein neuer Freund hatte gesagt, sie könnten mir helfen, eine preiswerte Unterkunft zu finden.
Ganz oben auf meiner Liste stand ein freundliches junges Paar. Beide lasen meinen Brief und nahmen mich mit offenen Armen auf. Ihr Mann sei ein ziemlich bekannter Dichter in Holland, erzählte mir die Frau. Sie zeigte mir mehrere schmale Gedichtbände mit seinem Namen auf dem Umschlag. Und soweit ich verstand, stammte sie aus einem alten, aber verarmten Adelsgeschlecht. Er war groß, drahtig und elegant und trug das Haar wie ein Jahrzehnt zuvor die Pariser Existenzialisten. Er hatte ein sympathisches, feines Gesicht. Sie wiederum entsprach genau dem Bild, das man nach ihrer Erklärung erwarten konnte. Sie war groß, sehr schlank und ausnehmend feminin, mit kastanienbraunem Haar und haselnussbraunen Augen, selbstsicher und schlicht, aber perfekt gekleidet. Ich war von beiden hingerissen, vor allem aber von ihr, weil sie nicht nur schön war, sondern auch perfekt Englisch sprach, mit britischem Akzent.
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