Ich vergaß Le Havre im Dunkeln. Ich vergaß Rouen und die Normandie. Die Müdigkeit fiel von mir ab, und ich atmete die heiße, stickige Luft ein, als wäre sie süß wie der Duft von Chanel Nr. 5. Um eine Flasche davon zu kaufen, hatte ich zusammen mit etwa dreißig Millionen anderen amerikanischen Soldaten an einem bewölkten Morgen vor zehn Jahren Schlange gestanden …
Gegen neun Uhr abends kam ich an. Als der Zug im Bahnhof Gare du Nord einfuhr, musste ich schockiert feststellen, dass ich nicht länger der Held, der ‹große Befreier›, der Adressat eines freundlichen Lächelns und ernsthafter Bitten war, sondern nur ein Tourist unter vielen, dessen Gepäck inspiziert, kontrolliert, überprüft und in ein Taxi verladen wurde, ohne dass ich die geringste Ahnung hatte, wohin es gehen sollte. Ich musste mich durch eine Horde von Amerikanern kämpfen, um diese Folter zu ertragen! Der Kampf war umso mühseliger, weil ich alles sechsmal fragen musste! Diese dummen Esel verstanden mich nicht mal, wenn ich sie in ihrer eigenen Sprache ansprach. Der Taxifahrer versprach, mir bei der Suche nach einem Hotel behilflich zu sein, fuhr aber lange Umwege – davon war ich überzeugt. Vor zehn Jahren hatte ich eine Tour zum Quartier Latin gemacht und wusste, dass das Viertel nicht weit vom Bahnhof Gare du Nord entfernt war. Und wenn wir dann endlich zu einem Hotel kamen, war es unweigerlich voll. Schon seit Stunden ausgebucht. Als ich am Ende eins fand, das noch ein Zimmer frei hatte, war es viel zu teuer. Mittlerweile war ich jedoch so erschöpft, dass ich es nahm und den Wucherpreis zahlte.
Beim Anblick des Betts wurde mir klar, wie müde ich war. Doch als ich das kleine Waschbecken für Frauen in der Ecke entdeckte (ich glaube, man nennt es Bidet), das diskret hinter einem Paravent, bemalt mit japanischen Damen bei ihrer Toilette, verborgen war, kam ich wieder zur Besinnung. Ich schleppte meinen geschundenen, müden Körper die Treppe hinunter, trat auf die kühle Straße hinaus und machte mich auf, um Paris, das Paris von einst, zu genießen. Die Namen der Straßen und Viertel hallten in meinen Ohren wider.
Wo hatten wir in jener Nacht vor zehn Jahren noch so viel Spaß gehabt? … Irgendwo gab es einen Club namens Can Can, fiel mir jetzt wieder ein: Aber wo? … Und ein Viertel namens Strasbourg Saint-Denis, in dem früher ein großes Restaurant gewesen war. Wir hatten dort gegessen. Ganz in der Nähe war ein Theater. Es hieß, es sei das größte der Welt. Wenn die Lichter erloschen, funkelten dort künstliche Sterne. Es sah aus wie ein echter Himmel … mit Wolken und allem Drum und Dran. Das Rex!
Alles kam wieder hoch. Müde, aber entschlossen stolperte ich weiter. Plötzlich schwankte die Straße hin und her, so wie das Schiff auf der Überfahrt. Mir wurde schwindelig. Die Sehnen in meinen Knöcheln ächzten wie altes Leder, und die Knorpel in den Kniescheiben knirschten, als wären sie rostig. Wo waren meine Füße? Sie fühlten sich an wie abgebrochene Schienbeine, die auf die harten Pflastersteine prallten. Trotzdem wanderte ich blind durch eine Straße nach der anderen, auf der Suche nach weichen, warmen Farben, Gelächter, dem Duft von Parfüm und einer Begleiterin, mit der ich mir das diskrete kleine Waschbecken hinter dem seidenen Paravent mit den japanischen Damen teilen konnte.
Es fing an zu regnen. Mir war kalt; ich fühlte mich müde und verloren und fand den Weg zurück zum Hotel nicht mehr. Ich bog in eine Gasse in der Nähe eines Kinos ein. Davor stand ein großes Plakat mit dem Bild von Fernandel; er trug eine weiße Segeltuchhose und Tennisschuhe und einen komischen Hut auf dem Kopf. Aus einem Toreingang sprach mich eine Frau an. Sie war alt, und ihr Haar war an den Wurzeln dunkel und am Gesicht blond. Auf dem Kinn prangte ein künstlicher schwarzer Leberfleck. Insgesamt hatte sie drei davon. Als ich aus dem Regen in das muffige alte Treppenhaus trat, fragte ich mich, ob sie es war, an die ich mich zu erinnern versuchte. Wir tranken Kognak, und ich erzählte ihr, dass ich Jimmy heiße … Und dann zog ich einen Reisescheck aus meiner schwarzen Brieftasche und gab ihn ihr. Als ich mein Hotel endlich wiederfand, war es sehr spät, und bis ich einschlief, fast Morgen. Ich schlief bis in den Mittag.»
«Monsieur?»
Ein Kellner stand vor unserem Tisch. Während ich mit meinen Erfahrungen in Paris beschäftigt war, hatte mein Gegenüber ein weiteres Glas Wein bestellt.
«Willst du nicht auch eins?», fragte er.
«Nein danke», gab ich zurück.
Der Kellner runzelte die Stirn, denn es war Essenszeit, und wir besetzten einen Tisch in der Mitte. Er wollte, dass wir gingen, damit er ihn neu decken und vielleicht einer vierköpfigen Gästegruppe eine der teuren Mövenpick-Spezialitäten servieren konnte, mit denen sich ein ansehnliches Trinkgeld verdienen ließ. Da ich selbst einmal Koch gewesen war, fühlte ich mich unbehaglich und schlug vor, jetzt aufzubrechen. Doch meine Freunde wollten, dass wir noch blieben und unsere Unterhaltung zu Ende führten. Der junge Mann rechts von mir, dem zuliebe ich diese Erklärung begonnen hatte, war der Ungeduldigste von allen und wollte unbedingt wissen, wie mein Aufenthalt in Paris verlaufen war.
«Ist das alles, was du über Paris zu sagen hast?», fragte er. Ich merkte, dass er enttäuscht war und mich wegen meiner vermeintlich typisch amerikanischen Beschränktheit verspottete. Sein Tonfall nervte mich, und um meine Meinung über Paris zu rechtfertigen, ging ich ein wenig verzweifelt zum ernsteren Teil der Geschichte über.
«Oh, ich weiß schon, was dir zu Paris einfällt», begann ich. «Die Liebe, der Zauber, Liberté, Fraternité, Égalité! Der Louvre, Montmartre und all das. Ich war schon überzeugt, bevor ich überhaupt da war. Es heißt, Paris sei der Ort, wo alle guten Amerikaner nach dem Tod enden. Ich war auf dieses Himmelreich genauso gespannt wie meine Landsleute. Aber nachdem ich einen ganzen Tag vergeblich versucht hatte, im Quartier Latin ein Hotelzimmer zu bekommen, weil man mich für einen Nordafrikaner hielt, musste ich meine anfängliche Meinung revidieren …»
«In Paris!», riefen meine Freunde aus.
«In Paris!», erwiderte ich triumphierend. «Ich lernte ein paar nordafrikanische Studenten kennen. Die erklärten es mir. Sie lebten schon seit vielen Jahren dort, sie hatten keine Sprachprobleme und waren zumindest auf dem Papier Franzosen, also mussten sie es wissen …»
«Du hast einen Komplex!», riefen meine Freunde wie aus einem Mund.
«Wahrscheinlich», räumte ich ein. «Ich hatte viele Komplexe. Trotzdem verstehe ich nicht, warum ich es so schwer hatte, ein Zimmer zu bekommen. Deshalb machte ich ein Experiment …»
«Was für ein Experiment?», fragte der junge Mann, der diese Unterhaltung angeregt hatte.
«Nun, ich stand am Schalter des American Express, als eine recht hübsche junge weiße Amerikanerin hörte, wie ich Französisch sprach und mir ein Kompliment machte. Ich bedankte mich und verwickelte sie in ein Gespräch.
‹Was machst du hier in Paris?›
‹Ich bin Journalistin. Ich hoffe, dass ich mit meinen Artikeln für die Herold Tribune meinen Urlaub finanzieren kann. Früher habe ich für eine kleine Zeitung in meiner Heimatstadt in Ohio geschrieben. Und du?›
‹Ach, ich würde auch gern eine Weile in Paris verbringen und schreiben. Aber es sieht nicht besonders gut aus; bis jetzt habe ich es nicht geschafft, ein Hotelzimmer im Quartier Latin zu bekommen. Woanders will ich nicht wohnen. Jedes Mal heißt es, man habe keine Zimmer frei. Aber das glaube ich nicht. Bestimmt hat es mit meiner Hautfarbe zu tun und dem, was sie über meine vermeintliche Herkunft aussagt.›
‹Du glaubst wohl, du bist noch immer in Amerika!›, lachte sie. ‹Das hier ist Paris!›
‹So heißt die Stadt, stimmt›, entgegnete ich, ‹aber in Amerika wäre es zu diesem Durcheinander gar nicht gekommen, jedenfalls nicht da, wo ich herkomme, denn dort hätte ich ein weißes Hotel gar nicht erst betreten!›
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