Jetzt philosophiere ich ein wenig
«Sieh dir den Baum an», sage ich und zeige auf einen imaginären Baum mitten im Raum. «Da, zwischen den beiden Tischen, die die Kellnerin gerade für das Abendessen eindeckt.» Er betrachtet den Baum. «Und jetzt sieh dir den anderen an. Dort drüben – er wächst aus der Kasse am Tresen, da, wo gerade der gefrorene Hummer durch die Luft fliegt.» Er blickt gespannt auf den zweiten Baum und folgt dem Flug des gefrorenen Hummers in der schwungvollen Linie, die meine Fingerspitze in die Luft zeichnet. «Sie sehen gleich aus, nicht? Von hier wirkt es so, als hätten alle Blätter die gleiche Form und die gleiche Farbe. Aber stimmt das – haben sie wirklich die gleiche Form und die gleiche Farbe?»
«Nein», antwortet er ein wenig unbehaglich. Ich gebe ihm recht: «Stimmt, das haben sie nicht.» Dann fahre ich fort:
«Je länger du dir die beiden Bäume ansiehst, umso klarer wird dir, wie faszinierend sie sind. Sieh genau hin! Sieh dir an, wie das Licht auf sie fällt. Achte – achte auf die Schattierung der Blätter, die Muster, die sie auf dem Boden bilden. Heb sie auf. Halte sie gegen das Licht. Keins ist wie das andere, vor allem das Büschel an dem Zweig über dem Teich mit den kleinen blauen Fischen.» Staunend starrt er auf das Büschel imaginärer Blätter an dem Zweig, der über dem imaginären Teich mit den imaginären blauen Fischchen schwebt. «Aber halt!», rufe ich. «Dieses Muster siehst du nur jetzt. Es verändert sich. Es verändert sich mit jeder Minute, mit jedem Augenblick. Wie sieht es am Morgen aus? Am Abend? Oder mittags, wenn die Leute zum Essen nach Hause gehen? Und wie sieht es um zwei oder drei Uhr aus, wenn alle in ihre Büros zurückkehren? Ist es an einem sonnigen Augustnachmittag gegen vier dasselbe? Wenn der Wind im Oktober die Blätter mitgerissen hat? Oder wenn die Zweige im Januar von Eis bedeckt sind? Nein! Dabei haben wir nur die Oberfläche betrachtet, die banalsten Aspekte dieser beiden Bäume. Aber … », fahre ich fort, «… aber wenn du auch nur dieses bisschen von einem Baum in seiner Gänze wahrnimmst, kannst du das Himmelreich betreten, ohne deinen Pass vorzeigen zu müssen!»
Und was hat das mit Bern oder den Bernern zu tun?, fragt sein Gesichtsausdruck, doch noch ehe er es aussprechen kann, unterbreche ich ihn.
«Sind Menschen nicht komplexer, komplizierter und lebendiger als Bäume?» Bevor er «Ja» sagen kann, fahre ich fort:
«Sogar die Berner?»
Er runzelt die Stirn.
«Wie viel interessanter als Bäume sind Menschen, sogar Menschen aus Bern? Unendlich viel interessanter!», antworte ich auf meine eigene Frage. «Nun, und wenn ich schreiben will und mich für Menschen interessiere, kann ich dann nicht auch über die Berner schreiben, wenn ich dazu fähig bin?»
«Aber es gibt doch viel interessantere Orte für einen Schriftsteller», wendet er ein. «Paris, Rom, London!»
«Halt!», unterbreche ich ihn. «Zu Rom oder London kann ich nichts sagen, aber ich kann dir erzählen, warum ich nicht in Paris, Amsterdam oder München geblieben bin.» Und ich erzähle ihm Folgendes:
Warum ich nicht nach Paris gegangen bin
«Oh, ich dachte durchaus an Paris. Als ich in Amerika war, in Detroit in der Autoindustrie arbeitete und für diese Reise sparte, dachte ich, ich müsste unbedingt nach Paris! Und ich hatte einen guten Grund, denn ich war als Soldat dort gewesen und hatte mich in das Land verliebt. Schließlich hatte ich wundervolle Erfahrungen mit den Franzosen gemacht, noch bevor ich nach Paris gekommen war, in der Normandie und in Rouen. Damals hatte ich mir geschworen wiederzukommen. Verstehst du? Ich war sehr dafür. Aber als ich 1953 zurückkam, passierten viele unschöne Dinge.
Erstens hatte ich den Fehler gemacht, im April zu reisen. Das Wetter war schlecht. Zwar war die Überfahrt auf der Isle de France sehr angenehm verlaufen, trotzdem war ich schockiert, als ich in Le Havre von Bord ging. Seit ich zehn Jahre zuvor in einer kalten regnerischen Nacht durch die zerbombten Ruinen der Stadt gefahren war, hatte sich die Stadt enorm verändert. Der Hafen war neu, die Stadt war neu, und es gab viele fremde Leute, die mich herumkommandierten. ‹Gehen Sie dahin! Gehen Sie dorthin!›, müssen sie wohl gesagt haben, sie sprachen nämlich eine Sprache, die ich nicht verstand – war das Französisch?
Und noch bevor ich meine Enttäuschung über Le Havre hinter mir lassen und alte Erinnerungen an dieses und jenes Erlebnis wieder abrufen konnte (Cherbourg war in der Nähe, und Barfleur, der kleine Hafen, an dem wir während der Invasion landeten, nur fünfundzwanzig Meilen entfernt), fand ich mich schnaufend und schwitzend im Zug wieder, umringt von meinem Gepäck, unter Fremden, die sich in unbekannten Sprachen unterhielten, während meine geliebte Normandie langsam in der Dämmerung versank. Namen fielen mir wieder ein, Gesichter tauchten auf, Geräusche und Gerüche. Irgendwo – in Barfleur! – gab es eine alte Kathedrale im Regen, und eine Fischerstochter mit hübschen Beinen und Gummistiefeln, deren Brust sich nervös hob und senkte, während ich einen rostigen Angelhaken aus der Handfläche ihres Vaters zog, ein Mädchen namens Françoise und eine Lehrerin, die Simone hieß … Der Schmerz, oh, dieser bittersüße Schmerz einiger kostbarer Augenblicke von vor zehn Jahren ging unter und wurde von der Dunkelheit verschlungen.
An den Baum müsste ich mich erinnern, dachte ich, während wir durch die Dämmerung fuhren … An dieses Haus! … Dort drüben neben der Ruine stand ein kleines Haus, das … Aber es war schon wieder verschwunden. Gleichgültig schoss der Zug daran vorbei.
Tja, egal, dachte ich, egal. Ich bin in Frankreich. Und bald bin ich in Paris!
Als ich Soldat war, begleitete meine Einheit, das 509. Hafenbataillon, die Versorgungszüge, die zu verschiedenen Versorgungsdepots in ganz Frankreich unterwegs waren. Wir waren in Barfleur stationiert, wo ich zum ersten Mal viele herrliche Dinge erlebte. Später wurden wir nach Rouen verlegt und von da verteilten wir uns in ganz Frankreich. Deshalb kannte ich mich mit den Straßen relativ gut aus und auch ein wenig mit Paris. Dort legten wir nach jedem Einsatz einen Zwischenstopp ein und warteten, dass der Fahrdienstleiter uns eine neue Strecke zuwies. Wenn er nichts für uns hatte, schickte er uns nach Rouen zurück. Normalerweise blieben wir ein paar Tage in Paris, manchmal sogar mehrere Wochen. Wenn wir einen Einsatz hatten, ging es meistens nach Nancy; wenn er keine fand, fuhren wir ins Hauptquartier zurück, nach Rouen, auf dem Champs de Course, am Ende der rue Elbuf. Dort hatte es schon im ‹Ersten› Weltkrieg ein Lager für amerikanische Soldaten gegeben.
Was hatte ich für eine schöne Zeit in Paris gehabt! Wie freundlich die Leute waren! Und die Frauen! Wo sonst gab es derartig bezaubernde Geschöpfe? Obendrein im April! All das ging mir durch den Kopf, während ich, ohne es zu merken, den alten Song ‹April in Paris› … vor mich hinsummte, lada da da da. Und mir sagte: Es war eine wirklich gute Idee, hierher zu kommen!
Galt Paris nicht als Zentrum der Kunst? Waren nicht buchstäblich alle großen Schriftsteller hier gewesen? Heine, Rilke und Hemingway? Welch herrliche Qualen hatten Balzac, Hugo und Maupassant in Faubourg Saint Germain erlitten!
Ich werde mir ein schäbiges kleines Zimmer im Quartier Latin nehmen, dachte ich, mit einem alten Bett, einem Tisch zum Schreiben und einer Kerze. Und einen halb zerfallenen Kamin sollte es haben. Ich werde Käse essen und Rotwein trinken, vielleicht ein bisschen Haschisch rauchen und unvergessliche Texte schreiben. Im Übrigen werde ich mir eine schöne, dekadente Geliebte zulegen, die ich in meinen Geschichten unsterblich mache. Ich werde leiden … und betastete zum Trost die schwarze Brieftasche aus Kunstleder mit den Zwanziger- und Fünfziger-Reiseschecks …
Читать дальше