Das Land wächst weiter. Es gibt Kriege, die Bevölkerung verändert sich, alte Einwanderer verschmelzen mit der herrschenden Gesellschaft, während die neuen Einwanderer leiden, so wie ihre Vorgänger gelitten haben. Der ökonomische Status der verschiedenen Minderheiten stabilisiert sich. Die Pionierzeit ist vorbei, neue, unerschlossene Ressourcen werden rarer. Man beginnt, diese Ressourcen zu erhalten, man baut auf, statt abzureißen. Zivilisation und Kultur im Sinne der Alten Welt machen sich langsam bemerkbar, und damit nehmen die ethnischen und regionalen Spannungen ab. Eine Folge dieses Prozesses ist, dass die Schwarzen weißer werden und die Weißen aufgrund gegenseitiger ethnischer Befruchtung physiognomisch vielfältiger. Und das setzt sich fort, solange es einen Stift gibt, mit dem man es festhalten kann …
Ich stand unter dem Vordach des Bahnhofs und sog die kühle, feuchte Luft ein. Während mein Körper sich entspannte, wurde mir die einzigartige Szene, die sich vor meinen Augen abspielte, bewusst. Minutenlang hatte ich die Fassade des luxuriösen Hotels Schweizerhof betrachtet und dabei zugesehen, wie der blaue Zug in den kleinen Bahnhof davor einfuhr und anschließend zu einem Ort namens Zollikofen aufbrach, bei dessen Aussprache ich mir fast die Zunge abgebrochen hätte. Ein feiner Nieselregen fiel, und viele Passanten liefen mit roten, blauen, weißen und schwarzen Regenschirmen an mir vorbei. Glänzende Taxis parkten in einer Reihe vor einem Zeitungsverkäufer mit einem glänzenden schwarzen Umhang. Er trug einen flachen schwarzen Hut mit einem Schirm aus Lackleder und einer gelben, mit schwarzen Großbuchstaben bedruckten Banderole. Gelegentlich stieß er eine monotone Salve unverständlicher Worte aus. Sie klangen wie Berner Togg Slopp! … Berner Togg Slopp! … Dann fiel mir auf, dass es sich bei den Taxis um Chryslers und Dodges handelte, und ich war froh, etwas Vertrautes zu sehen. Unmengen von bunten Flaggen, manche mit schwarzen oder braunen Bären mit herausgestreckter roter Zunge und rot hervorgehobenen Genitalien vor einem leuchtend gelben Hintergrund. Sie sahen ziemlich harmlos und irgendwie auch komisch aus, wie Kinderspielzeug, wurden aber offenbar sehr ernst genommen, denn sie schmückten die strengsten Fassaden, die ich bisher in Europa gesehen hatte. Ohne die grimmig-graue Fassade der Kirche, die auf der rechten Seite des Platzes stand, hätten sie der Stadt eine festliche Aura verliehen.
Kurz darauf fiel mir eine erstaunlich hübsche junge Frau auf, die aus dem Bahnhof kam und in ein Taxi stieg. Als es wegfuhr, fiel mir ein, dass ich mein Gepäck loswerden und meine Freunde anrufen sollte. Sie arbeiteten in der Botschaft und wohnten in einem Berner Stadtteil, der Kirchenfeld hieß, wie ich später erfuhr. Mein Freund zu Hause, bei dem ich sie 1947 kennengelernt hatte, hatte mir erzählt, dass sie in Bern lebten und noch keinen einzigen Schweizer kennengelernt hätten. In ihren Briefen hatten sie über Einsamkeit geklagt. Deshalb hatte er mir geraten, sie zu besuchen. Ich rief sie also aus einem angenehmen Gefühl der Gleichheit heraus an, denn auch ich fühlte mich einsam – und ängstlich.
«Oh! Wer? … Ach ja. Wo bist du denn? Am Bahnhof? Wie schön … Das Baby war krank, und wir sind alle sehr müde, weil wir in letzter Zeit so viele Amerikaner zu Besuch hatten. Scheinbar sind gerade alle gleichzeitig hier. Sorry, dass wir dich nicht bei uns aufnehmen können, aber zurzeit haben wir kein Bett frei. Das Haus ist ein einziges Durcheinander. Wir haben uns nach dem Umzug noch nicht richtig einrichten können. Wir sind gerade dabei, uns in einer neuen – viel schöneren! – Wohnung einzuleben. Aber vielleicht könnten wir wenigstens zusammen zu Abend essen. Prima. Wäre dir das recht? Gut! Mal sehen. Du bist am Bahnhof? Ich muss nur den Wagen holen und … okay, dann bis gleich, es dauert nicht lange …»
Sie legte auf. Ich hatte gerade mal drei Worte gesagt! Alles war bereits geregelt, noch ehe ich «Ja», «Nein» oder «Vielleicht» sagen konnte. Genau fünfzehn Minuten später hielt die Dame im Regenmantel und atemlos vor dem Bahnhof, entschuldigte sich vielmals, dass sie nicht früher hatte kommen können und Mr. X, ihr Ehemann, (man kann nie vorsichtig genug sein, wenn es um die Namen des Botschaftspersonals geht) mich nicht hatte abholen können. «Angesichts der Lage in Russ … äh … er hat dieser Tage so viel zu tun», erklärte sie in einem verlegenen, vertraulichen Tonfall. «Aber du wirst ihn bald wiedersehen, heute Abend. Wir gehen in ein wirklich uriges Restaurant. Es wird dir gefallen, es ist typisch für die Schweiz. Du wirst sehen. Das Essen ist gut – und obendrein nicht allzu teuer.» Sie lächelte nett und unpersönlich, drehte den Lockenkopf zur Seite und raste durch die dunstigen Straßen, als wäre ihr Wagen der einzige im Universum.
Wir fuhren direkt zu ihr nach Hause. Es war ein angenehmes mit Blumen geschmücktes Viertel in der Nähe eines weitläufigen Parks. Nach unserer Ankunft bot sie mir einen Drink an und stellte mich ihren Kindern vor, einem dreijährigen Jungen namens Paul und dem acht Monate alten Baby Morty. Sie waren ganz zutraulich, und wir spielten ein bisschen miteinander, während ihre Mutter sich umzog. Kurz nach sieben kam mein Gastgeber nach Hause. Er war hochgewachsen, müde und sehr nett.
Nachdem sich alle zurechtgemacht hatten und das Kindermädchen die Kinder ins Bett gebracht hatte, fuhren wir zum Kornhauskeller, einem ehemaligen Getreidespeicher, wo wir uns ein opulentes Mahl aus gegrillten Schweinekoteletts und gekochtem Gemüse genehmigten. Anschließend bestellten wir noch einen grünen Salat und Kaffee, und ich rauchte eine hervorragende Dannemann-Zigarre, die ein Franken dreißig kostete. Die Mahlzeit war mit angenehmen Erinnerungen an Amerika und Spekulationen über meine Zukunft als Schriftsteller garniert. Nach dem Abendessen fuhren wir ein bisschen durch die Stadt. Davon ist mir nur im Gedächtnis geblieben, dass mir die Straßen sehr eng, alt und fremd erschienen. Etwa eine Stunde nach Einbruch der Nacht gingen wir in einem Club namens Chikito tanzen, dort gab es eine Liveshow und eine verwirrende Anzahl hübscher Frauen. Als wir den Club schließlich verließen, war es schon zu spät, um ein Hotelzimmer zu suchen, daher luden meine Gastgeber mich ein, die Nacht bei ihnen zu verbringen und versprachen, mir am folgenden Tag bei der Suche nach einem Zimmer behilflich zu sein.
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