Ich war hungrig, erschöpft und irgendwie auch deprimiert nach der Anstrengung, meine beschwerlichen Schritte nach Bern zurückzuverfolgen. Außerdem frustrierte es mich, dass ich es nicht geschafft hatte, ihnen klarzumachen, worum es mir ging. Mein Gegenüber war unzufrieden, ich spürte es. Es hatte ihm nicht gefallen, was ich über Europa, die Franzosen und die Deutschen gesagt hatte. Vielleicht war er Welschschweizer, Deutschschweizer, Schweizerdeutscher oder Schweizerfranzose – ich zog alle Möglichkeiten in Betracht, sah aber ein, dass es zu spät war; der Schaden war bereits angerichtet.
«Ein anderes Mal», sagte ich, stand auf und verabschiedete mich. Ich trat durch die Schwingtür des Mövenpicks auf den Bahnhofplatz und fühlte mich nackt und beschämt. Bruchstücke von Gedanken wirbelten durch meinen Kopf, und das Geräusch, das sie verursachten, vermischte sich mit dem Verkehrslärm. Ich ging quer über die Straße Richtung Spitalgasse, schlenderte unter den Lauben von Loeb hindurch und ignorierte die modisch gekleideten Schaufensterpuppen unter den kristallenen Lüstern und die Menschenmenge, die durch die großen Eingänge strömte. Ohne es zu merken, ging ich in Richtung Sherrers, einem kleinen Restaurant in der Marktgasse, in dem ich oft aß, weil es so preiswert war. Dort setze ich mich in Ruhe hin, sagte ich mir. Dann fiel mir plötzlich ein, dass ich kein Geld mehr hatte. Madame C.s Käsefondue!, dachte ich, drehte mich um und stieß mit einem Mann mittleren Alters zusammen, der eine Melone trug und seinen schwarzen Pudel an einer gelben Leine führte. «Pardon!», entschuldigte ich mich, denn mir war klar, dass ich mich beeilen musste, wenn ich noch rechtzeitig zu Madame kommen wollte. Bis nach Wabern waren es gut fünfzig Minuten zu Fuß, und für ein Trambillet hatte ich kein Geld.
Woran ich unterwegs dachte
Ich dachte so gut wie gar nichts, bis ich die Monbijoustraße erreichte, wo viele Menschen unterwegs waren. Diskret beäugte ich die Knöchel, Hüften und Brüste der vielen hübschen Mädchen, ihr unablässiges Auf und Ab. Doch als ich in die Monbijoustraße eingebogen war, die Bundesstraße auf der linken Seite überquert hatte und am Olivetti-Schreibmaschinenladen und am Tea Room Rendez-vous vorbeigekommen war, lichteten sich die Menschenmassen. Während die Leute in Häusern, aus deren Fenstern rosiges Licht strömte, bei Café complet, Rösti, Bratwurst und Apfelkuchen saßen, ging mir Folgendes durch den Kopf:
Ich vermisse mein eigenes rosiges Fenster am Abend! Ich vermisse meine Schweinekoteletts mit Bratäpfeln und brauner Sauce, die frischen warmen Biscuits dazu und den dampfenden Tee, um alles runterzuspülen. Ich werde immer in einer fremden Stadt sein, in die Fenster fremder Leute blicken, an den Tischen fremder Menschen essen … Dann ein anderer Gedanke: Ich habe vorhin nicht alles gesagt, was ich dachte … oder fühlte. Einiges von dem, was ich sagte, stimmte, egal wie schlecht ich mich ausgedrückt habe, es stimmte – früher einmal! Aber wie lächerlich es mir jetzt vorkommt!
Der Abend fühlte sich weich und kühl an, als ich an der Wander AG vorbeikam. Ich dachte an Little Orphan Annie und an Daddie Warbucks und daran, wie erstaunt – ja, gekränkt – ich gewesen war, als ich bei einem Streit, den ich unbedingt gewinnen wollte, entdeckte, dass Ovomaltine ein Schweizer Produkt war. Das ist nicht fair, dachte ich nun, lief die Monbijoustraße weiter hinauf, folgte den Gleisen des Trams um die Ecke und kam an dem Seniorenheim vorbei.
Aus seinen Fenstern fiel blasses Licht. Gegenüber auf dem weiten grünen Feld stapfte ein müder Bauer, der sehr alt aussah, vor seinem riesigen grauen Pferd über einen frisch gepflügten Acker. Als ich den Duft von Erde und feuchtem Gras einsog, fiel mir ein, wie mir mal jemand erzählt hatte, dass die Berner, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, fünfundachtzig oder sechsundneunzig und zwei Drittel, glaube ich, einen Schaukelstuhl vom Staat geschenkt bekommen. Mein Informant meinte, das erkläre vielleicht, warum die Berner sich bemühten, so lange wie möglich zu leben. Dann fragte er, ob mir nicht aufgefallen sei, wie vorsichtig sie seien. Wie praktisch, dachte ich, und lächelte in mich hinein, während ich zusah, wie sich die Gestalt langsam in der Dunkelheit verlor. Wie praktisch, so nah am Seniorenheim zu wohnen. Mein Lächeln und meine Gedanken lösten sich in kleine Wellen auf, die sich in meinen ganzen Körper ausbreiteten, bis seine Hitze in die abendliche Kühle ausstrahlte. Es lag an der Anstrengung und dem Rhythmus des Gehens, und als meine Augen auf die untergehende Sonne fielen, die sich durch einen Streifen Grün im Westen brach, entdeckte mein Körper sein Lied! …
An einer Ecke blieb ich stehen und ließ ein Auto vorbei. Noch zwanzig Minuten, sagte ich mir und hoffte, dass ich mich nicht verspäten würde, wünschte, Madame C. würde mir statt des Käsefondues nur ein Stückchen Fleisch und Brot und vielleicht eine Tomate und eine grüne Paprika vorsetzen.
Aber … erneut kräuselten sich meine Gedanken, und schon klopfte ich an Madame C.s Tür und sagte: «Guten A-bend!», während mir der Geruch nach Käse und Weißwein in die Nase stach …
Bevor ich an diesem Abend in meinem dunklen Zimmer einschlief, dachte ich darüber nach, wie unzufrieden ich das Mövenpick verlassen hatte. Ich hatte nur eine Formel wiederholt, die ich schon unzählige Male ausgesprochen hatte, weil man mir unzählige Male dieselben Fragen gestellt hatte. Die Erklärung, die ich abgegeben hatte, war alles andere als vollständig gewesen. Dem jungen Mann hatte ich nur das gesagt, was ich schon anderen jungen Männern gesagt hatte, die dies waren und nicht das. Stimmt, ich war froh, dass ich nicht mit einem der Kerle konfrontiert gewesen war, der das war, denn das sind echte Bastarde! Nicht weil ihre Eltern unverheiratet gewesen waren, als sie geboren wurden – wer spricht denn heute schon darüber! – sondern weil sie mit ihren dreckigen Pfoten gern in den intimsten Teilen meines Bewusstseins bohren.
Jeden Augenblick kann einer von denen auftauchen. Sie könnten hinter jedem x-beliebigen Felsen lauern. Das Musterbeispiel ist normalerweise ein cleverer junger Mann, der amerikanische Zeitungen liest. Er hat Italien, Paris und Spanien besucht und spricht deren Sprachen mit einem starken Schweizer Akzent. Er ist ein Mann von Welt, und das will er mir zeigen. Zudem würde er, egal wo, andere Leute gern damit beeindrucken, dass er au courant ist, amerikanisches Englisch spricht, ein äußerst interessanter Mensch ist und jedermann kennt. Für gewöhnlich kommt er auf mich zu, grüßt mich auf vertraute Art (‹Amerikaner sind nun mal so, weißt du›, scheint er zu sagen) und nennt mich beim Vornamen. Vielleicht hat er ihn zufällig aufgeschnappt oder von einem Bekannten erfahren, der ihn von einem Mädchen hörte, mit dem ich an einem Samstagabend Weihnachten vor einem Jahr im Bierhübeli getanzt habe! Manchmal ruft er ihn von der anderen Straßenseite, aus einer Menschenmenge heraus, die gerade aus dem Kino strömt, um halb fünf, halb sieben, halb neun oder halb elf. Meistens macht er sich in einem Café an mich heran, aber eher im Casino oder Embassy Tearoom, wo die hübschen Mädchen ein- und ausgehen, sich umschauen und lächeln, ihren Kaffee oder Tee trinken und sich unterhalten. Einmal tauchte er im Bali auf, zwischen zwei Schlucken Bier.
«Hi, Wince!» oder «Hal-lo, Winsen!», rief er über den Lärm des Klaviers, den Glanz der kitschigen Lampen, das nervöse Lachen der Bardame mit dem tiefen Ausschnitt hinweg und streckte mir seine klebrige Hand entgegen. «Was gibt’s Neues! Was für eine Überraschung, dich zu sehen!» Er hatte mich also nicht gesehen, als er mich vor knapp zwanzig Minuten beim Verlassen des Sultan Tea Rooms angesprochen hatte! «Was, du bist noch immer in Bern? Ich verstehe nicht, wie du es hier aushältst!»
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