Sie hat es gewusst, dachte ich.
Die Sonne schien auf das stumpfe graue Gemäuer und auf die Pflastersteine der Straße und überzog sie mit einem hellen Glanz. Ich hörte nichts, nur seine Stimme, seinen Atem und die Stille, wenn wir verstummten. Ich sah das schöne Gesicht der Dichterin vor mir. Sie saß in dem lichtdurchfluteten Zimmer und sah mich unverwandt an. Sie hatte die Hände in ihrem Schoß verschränkt. Der wilde Kater tauchte plötzlich aus dem Nichts auf und sprang auf ihren Schoß. Sie streichelte seinen Kopf und sagte: ‹Aus meinen Eltern haben sie Seife gemacht.› Ich zuckte zusammen, drehte mich um und sah ihn an, so laut war die Stimme, die ich soeben gehört hatte. Ich fragte mich, ob auch er sie gehört hatte. Als sich unsere Blicke kreuzten, wurde er kreidebleich. Die randlose Brille, die er trug, ließ seine Augen riesig und flüssig erscheinen, als blickten sie mich durch ein mit Wasser gefülltes Glas an.
‹Sie kamen alle um›, sagte er. ‹Nur … mich haben sie nicht mitgenommen. Sie kamen am Morgen in aller Frühe und nahmen meine Familie mit. Sie brachten sie dahin, zu diesem alten Gebäude. Es waren schon viele andere da. Da standen sie …›
Ich wandte mich von ihm ab. Wie konnte er mir das erzählen, dachte ich, nur zehn Jahre später? Und warum mir? Warum erzählte er ausgerechnet mir diese schreckliche Geschichte! Seine Stimme dröhnte in meinen Ohren, wiederholte die Einzelheiten, bis ich Lust hatte, ihm ins Gesicht zu spucken. Ich drehte mich wieder zu ihm um und legte ihm die Hand auf die Schulter. ‹Warten Sie!›, sagte ich. Aber er hörte mich gar nicht.
‹Sie haben mich nicht mitgenommen, weil ich nicht so aussah wie ein Jude. Wie um Himmels willen sieht ein Jude denn aus!› Schweigend kehrten wir langsam zurück. Wir sahen uns nicht an. Und beim Gehen dachte ich, er beichtet es allen Leuten, weil er seine Identität verborgen hat und nicht mit den Mitgliedern seiner Familie gestorben ist … Er assoziiert mich mit ihm, weil ich schwarz bin …
Bei dieser Vorstellung überkam mich ein Gefühl von Mitleid, vermischt mit Übelkeit; nicht aufgrund dessen, was er erlitten hatte, sondern weil mir bewusst wurde, dass er ein perverses Vergnügen daran fand, die intimen Einzelheiten des Todes seiner Familie zu erzählen, an dem Schmerz, den er sich selbst und anderen zufügte.
Wir kamen zum Stadtzentrum. Er musste nach rechts, ich geradeaus. Wir verabschiedeten uns und gingen unserer Wege. Ich sah den Grafologen nie wieder.
Inzwischen war ich so aufgewühlt, dass dieses Gefühl all meine Handlungen beherrschte. Ich hatte kein Zimmer finden können. Die Zeit verstrich, und ich machte mir Sorgen wegen meiner Stellung in der Welt. Überall lauerten Gefahren. Ich fasste einen Entschluss, den ich langsam in die Tat umsetzte, wenn auch sehr indirekt. Nachdem ich mich von dem Grafologen getrennt hatte, bestand meine erste entscheidende Reaktion darin, Descartes’ Haus aufzusuchen. Es erinnerte mich an sein Schicksal durch die Hand der Kirche, und das war alles andere als eine fröhliche Reminiszenz. Und für den Fall, dass das nicht reichte, um mir die Entscheidung, die ich getroffen hatte, vor Augen zu führen, schaute ich mir auch noch Rembrandts alte Residenz an, um mir erneut ins Gedächtnis zu rufen, wie er fast verhungert war, weil er sich geweigert hatte, so zu malen wie die Bürgerschaft es von ihm verlangte. Nach diesem Besuch spürte ich, wie die unsichtbaren Flammen des Nationalsozialismus, des Judentums, des Katholizismus und des Puritanismus zu meinen Füßen flackerten. Ich erinnerte mich an die Hexenverfolgungen in New England. Ich sah, wie im tiefsten Winter zitternde Grüppchen von holländischen Puritanern – darunter auch Juden, zweifellos – an der windzerzausten Küste von Plymouth standen. Und dann spaltete sich der entscheidende Gedanke von meinen Gefühlen ab. Das war der Ort, aus dem sie geflohen waren! Und deshalb war klar: Das ist kein Ort für mich.»
«Und da bist du nach Bern gekommen?», fragte der junge Mann, der mich zu dieser Erklärung veranlasst hatte.
«Nicht sofort. Zuerst bin ich nach Deutschland gefahren.»
«Nach Deutschland!», riefen alle verblüfft.
Ich nippte an meinem Glas. Der Wein schmeckte sehr sauer. Meine Lippen waren trocken. Ich warf einen Blick auf die Uhr über dem Eingang. Es war bereits spät. Ich sollte wirklich gehen … sagte ich mir, während ich darüber nachdachte, warum ich nach Deutschland gegangen war und es dann wieder verlassen hatte. Es kam mir jetzt seltsam vor, dass ich das getan hatte. Ich hatte oft daran gedacht, eine Geschichte darüber zu schreiben. Ich brauchte nur den passenden Ansatz, eine erste Zeile. Meine Gefühle kreisten um diese Spannung, die Deutschland war, und ich begann zu sprechen, ohne mir dessen oder der anderen ringsum bewusst zu sein.
Warum ich Deutschland verlassen habe
«Ich bekam einen Brief von einem Freund. Er hieß David und war ein rothaariger Südstaatler aus den Smoky Mountains in Tennessee, der mittlerweile in Kalifornien lebte. Er schlug mir vor, einen Bekannten in Bern zu besuchen, den ich einmal auf einer Party in seiner Wohnung auf dem St. James Square in Philadelphia kennengelernt hatte. Ich fühlte mich wie Lazarus, als ihm ein neues Leben versprochen wurde. Gehorsam verließ ich drei Tage später Amsterdam, vorgeblich auf dem Weg nach Bern.
Doch unterwegs legte ich einen Zwischenstopp in Deutschland ein. Vielleicht bleibe ich eine Weile hier, sagte ich mir und vergaß vorübergehend den Ruf, der mich von den Toten erweckt hatte. Nun, der Grund, warum ich einen so außergewöhnlichen Gedanken hatte, vor allem angesichts dessen, was ich euch soeben über meine Gefühle in Amsterdam erzählt habe, war, dass ich auf dem College einen Zimmergenossen gehabt hatte, der sich an der medizinischen Fakultät einer deutschen Universität beworben hatte. Er beherrschte die Sprache ziemlich gut, nachdem er sie mithilfe eines hübschen Fräuleins erlernt hatte. Dieses Fräulein hatte er mir an langweiligen Abenden, wenn wir es uns nicht leisten konnten, den Campus zu verlassen, liebevoll bis in die kleinsten Einzelheiten beschrieben. Der eigentliche Grund dafür, dass er sich an einer ausländischen Universität dreitausend Meilen von zu Hause entfernt beworben hatte, war natürlich der, dass die amerikanischen Universitäten völlig überfüllt waren. Es gab kaum genug Studienplätze für die berechtigten Einheimischen, ganz zu schweigen von Juden, Chinesen, Japanern, Indianern und Schwarzen.
Die Universität befand sich in München. Auf dem Weg nach Bern kam ich durch München. Wir könnten uns wiedersehen, dachte ich, und erinnerte mich an die schöne Zeit, die wir auf dem College verbracht hatten. Vielleicht bringt mir ein hübsches Fräulein Deutsch bei. Ich könnte Goethe in seiner eigenen Sprache lesen … Ja! Ich werde in München bleiben, schreiben, studieren, die Kirchen genießen und mich kultivieren lassen …
Er wird überrascht sein, mich zu sehen, sagte ich mir, als der Zug in den Bahnhof einfuhr und ich zum nächsten Taxistand eilte. Es setzte mich an einem düster wirkenden Gebäude ab, anscheinend in einem Vorort der Stadt. Die Mittagssonne schien auf zwei dürre Bäume im Vorgarten. Es war ein warmer Tag, dennoch herrschte im Treppenhaus eine kühle und abweisende Atmosphäre, als ich die Stufen hinaufstieg. Ich hatte das Gefühl, als ginge ich in einen muffigen feuchten Keller hinunter. Es war absolut still. Die Fenster in den Türen der Wohnungen bestanden aus dunkel gefärbtem Glas. Dahinter tauchten gelegentlich Gesichter auf, die mich schweigend ansahen. ‹Wissen Sie vielleicht, wo …?›, begann ich, und schon war das Gesicht wieder verschwunden. Im dritten Stock öffnete sich eine Tür einen Spaltbreit, als ich daran vorbeikam, und ich hörte eine Frau lachen. Müde stieg ich weiter zum nächsten Stockwerk hinauf und überprüfte im Vorbeigehen die Namen auf den kupfernen Namensschildern. Schließlich fand ich im obersten Stock den Namen meines Freundes. Ich klingelte und wartete mehrere Minuten. Gerade als ich ein zweites Mal läuten wollte, ging die Tür ein wenig auf, und durch den Spalt blickten mich zwei misstrauische Augen an.
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