Auf den Gleisen wimmelte es von Menschen, und als ich aus dem Zug stieg, schienen mich alle anzustarren. Ich zog meine Krawatte fest, rückte den Hut zurecht und strich den Regenmantel glatt. Was gaffen sie denn so?, fragte ich mich, tastete verstohlen nach meinem Hosenschlitz, um mich zu vergewissern, dass ich nicht vergessen hatte, ihn zu schließen, und überlegte, ob ihre Blicke meinen Mantel durchdringen konnten. Während ich mir einen Weg durch die Menschenmassen bahnte, erinnerte ich mich an die wenigen Kinder in Amsterdam, die mich angestarrt hatten, und wünschte, ich wäre wieder dort. Manche Leute lächelten und flüsterten etwas, als ich an ihnen vorbeikam, andere lachten. Lachen sie etwa über mich? … Liebe Güte! Ratlos stolperte ich die Treppe hinauf und spähte verwirrt nach rechts und links. Plötzlich hörte ich etwas Schreckliches. Mir brach der kalte Schweiß aus, mein Magen drehte sich um. Ich hatte das Wort Neger gehört.
Meine heftige emotionale Reaktion beruhte auf seiner Ähnlichkeit mit dem Wort «Nigger», einem abwertenden Ausdruck, der seit dem Beginn der Sklaverei das Leben aller Schwarzen in Amerika definierte. Er hat eine Geschichte, ein starkes eigenes emotionales Leben. Historisch ist es ein Begriff des Hasses und der Erniedrigung (des Selbsthasses und der Selbsterniedrigung unter Schwarzen), dessen Entwicklung Amerikas Geschichte von nationaler Entwicklung entspricht. Es ist ein negativ besetztes Symbol, mit dem die schwarzen Nobodys bezeichnet werden, die ein Zehntel der nationalen Bevölkerung ausmachen. Ein Wort, das die Grundlage definiert, mit der die Mehrheit der amerikanischen Weißen ihre Habgier, ihre Angst, ihren Provinzialismus und ihre Liebe zu diesem ihrem Nachbarn rechtfertigt.
Meine Ohren waren derart konditioniert auf diesen Klang, dass die Nuancen zwischen «Nig…» – zu «Neg…» nur eine Nebensächlichkeit waren. «Nigger» war für mich mehr als nur ein Wort. Es war ein lebendiges Etwas, was ich mit einer königlichen, wenn auch teuflischen Auszeichnung versehen hatte. Es war eine Art Satan der Worte mit einem eigenen Gefolge satanisch edler Worte, beispielsweise «schwarz», «kinky» (mit diesem Wort wurde oft mein Haar beschrieben: es bedeutet kraus), «Plattnase», «wulstig», «Dickelippe», «rot», «hell», «weiß», «dunkel», «farbig», «traurig», «Blues», «singen», «glücklich», «tanzen», «kindlich» und unzählige andere. Es sind so viele, dass ich ganze Bände mit Beispielen für ihre wunderbaren Zauberkräfte füllen könnte. Ich könnte Beschreibungen ihrer unglaublichen Leistungen liefern, etwa, wenn es ihnen gelingt, etwas aus der Anonymität einer gedruckten Zeitungsseite so herauszustellen, dass es mir sofort ins Auge springt und mich meiner Selbstbeherrschung beraubt, oder unschuldigen Jugendlichen wie bei einem todesmutigen Sprung über die honigsüßen Lippen purzelt, noch ehe ich meinen philosophischen Talisman zücken kann.
Doch während ich mich mit der Zeit an das Wort Neger gewöhnte – etwas anderes blieb mir nicht übrig, weil man es überall in Europa benutzt –, lernte ich, nicht mehr zusammenzuzucken, wenn ich es in feiner Gesellschaft oder aus dem Mund unschuldiger oder liebenswürdiger alter Damen hörte, mit denen ich mich angefreundet hatte. Ich betrachtete es etwas häufiger als einen neutralen Begriff wie «Apfel», «Tuberkulose» oder «Charlie» und wusste, dass es lediglich «schwarz» bedeutete und kaum etwas anderes und dass selbst dieses «kaum etwas anderes» eine andere Qualität und Quantität besaß als das «kaum etwas anderes», an das ich gewöhnt war.
Es war so, als verließe man eine Welt, in der es immer Tag ist, und betrete plötzlich eine andere, in der es immer Nacht ist oder zumindest eine, in der der Abend besonders hell ist, ein Abend, der sich vom Tag unterscheiden lässt, mit einem Hauch von Abenddämmerung oder Morgengrauen durchsetzt … Doch später, als meine Augen sich an das neue Licht gewöhnt hatten, wurde mir allmählich bewusst, dass das, was ich zuvor für zwei verschiedene Welten gehalten hatte, in Wirklichkeit eine Welt war, dieselbe Welt, nur von einem anderen Standpunkt aus gesehen. Wir alle haben irgendwann diese Erfahrung gemacht – nicht wahr? –, wenn wir beim Betrachten einer Weltkarte plötzlich intuitiv erahnen, dass die verschiedenen Formen, die die Kontinente verbinden, wie Teile eines Bildes aussehen, das, wenn man es wieder zusammensetzen könnte, ein Ganzes, eine Kugel bilden würde, so wie wir sie immer sehen, wenn wir Geografie und Astronomie studieren. Ich staunte, dass man oft so lange braucht, um das Offensichtliche zu erkennen, es wirklich zu begreifen: dass die Welt eine Ganzheit ist, zum Beispiel, der Tag die Nacht ist und die Nacht der Tag! Ferner bemerkte ich mit einer Ehrfurcht, an der es mir gelegentlich mangelt, dass bestimmte, sehr seltene Menschen bei überraschend seltenen Gelegenheiten imstande waren, diesen fehlenden Unterschied zwischen scheinbar ungleichen Dingen wahrzunehmen, etwa dem, was sie befähigt, Dinge zu tun, die wir als Wunder bezeichnen: über Wasser zu gehen, als wäre es feste Erde, «Tote» zum Leben zu erwecken oder ein ganzes Universum auf eine Leinwand zu bannen. Sie versuchen, uns zu erzählen, was sie sehen, uns den Frieden nahezubringen, den ihre Perspektive ihnen bietet, sie verraten uns sogar, auf welchem Weg sie diese Höhe erreicht haben, aber wir verstehen sie nur selten, und ebenso selten wissen wir ihre Bemühungen zu schätzen … Doch das soll vermutlich auch so sein, denn wir können nur das sehen, was wir tatsächlich sehen, nur das hören, was wir tatsächlich hören, selbst wenn die Bilder und Klänge in den Höhlen unseres Bewusstseins bloß Luftspiegelungen und Echos sind.
Die Erklärung für den Wert von Gleichheit innerhalb der offensichtlichen Unterschiede in der Einstellung der Amerikaner gegenüber Rasse ist schwierig, denn ihr Europäer werdet, wie ihr es bereits bei verschiedenen Gelegenheiten getan habt, sagen: «Ich kann euch Amerikaner einfach nicht verstehen. Wie könnt ihr im Umgang mit den Bürgern eures eigenen Landes so primitiv sein?» Diese Frage lässt sich nur in hundertsechzig Millionen Büchern von jeweils mindestens sechstausend Seiten erklären. Und selbst dann hat man nur an der Oberfläche gekratzt!
Ich werde versuchen, Ihnen auf mehreren Seiten eine historische «Erklärung» dieses Phänomens zur Prüfung vorzulegen, aber das wird nicht einfach sein, weil ich mich den gröbsten Verallgemeinerungen hingeben muss, die man sich vorstellen kann. Ich werde Übertreibungen und Untertreibungen machen, die für viele Amerikaner nicht nur unhaltbar erscheinen, sondern es auch tatsächlich sind, ungeachtet der Tatsache, dass es ohnehin nur wenige Amerikaner gibt, die in der Lage sind, mit diesem besonderen Aspekt des amerikanischen Lebens umzugehen. Es ist kein Zufall, dass das maßgebliche Werk zu diesem Thema von einem schwedischen Soziologen verfasst wurde, der von der amerikanischen Regierung damit beauftragt wurde.
Doch zuerst ein kleiner gefühlsstabilisierender Aperitif, um in die richtige Stimmung zu kommen. Denken Sie einmal über folgende Fragen nach:
Sind Sie Protestant? Katholik? Jude? Atheist? Sind Sie reich oder arm? Sind Sie zufällig Sohn oder Tochter geschiedener Eltern? Hat Ihre Mutter Sie in einer mondbeschienenen Nacht hinter einem duftenden Fliederbusch im Park empfangen und Ihr Vater dann vergessen, sie zu heiraten? Sind Sie also unehelich? Hält man Sie für ein bisschen beschränkt? Und sind Sie infolgedessen leicht verhaltensgestört? Sind Sie zu groß? Zu dick? Haben Ihre Eltern Sie um drei Uhr morgens vor der Tür eines sadistischen Fremden ausgesetzt? Wenn Sie ein Kriegsflüchtling sind, der versucht, in einem fremden Land Fuß zu fassen, wenn Sie hinter dem Eisernen Vorhang oder vor dem Anblick von Spitzengardinen leiden, wenn Sie Segelohren oder vorstehende Zähne haben, wenn Sie ein Junge mit blauen Augen in einer Familie mit braunen Augen sind, dann meine ich Sie. Sind Sie Tellerwäscher, wenn Sie das Leben eines Millionärs führen sollten? Sind Sie das Kind eines Geistlichen? Der unbedeutende Sohn, die unbedeutende Tochter, der Bruder, die Frau oder der Mann eines bedeutenden Mitglieds Ihrer Familie? Vielleicht sind Sie intelligent, aber bloß gefühllos? Oder vielleicht allzu vernünftig? Sind Sie Engländer, jetzt, wo das Pfund nichts mehr wert ist und im Britischen Empire allmählich die Sonne untergeht? Haben Sie Angst vor dem Kommunismus? Wenn eins dieser kleinen Probleme Sie betrifft, werden Sie verstehen oder, besser gesagt, nachempfinden können, welche Wirkung das Wort «Nigger» auf mein Bewusstsein hat. Für die anderen vierzehn Millionen Schwarzen in den Vereinigten Staaten kann ich nicht sprechen. Hier nun meine historische Erklärung in Gestalt einer Kleinen Subjektiven Soziologie:
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