Die Kriminalpsychologin Katharina Kinski war Isabellas älteste Freundin. Zeit mit ihr zu verbringen hatte immer etwas Heiteres, Spannendes. Mörder und Psychopathen, Borderliner und Co-Abhängige. Kathi kannte sich aus mit kranken Beziehungen.
Viele solcher Charaktere hatten sich in die elegante, perfekt gestylte Fünfzigerin mit den grünen Augen schon verliebt, Stalking und Drohungen inklusive. Deshalb zählte Kathi zwei Polizeibeamte zu ihren engsten Freunden. Die konnte sie auch spätnachts anrufen, wenn einer ihrer Klienten wieder einmal durchdrehte.
»Ja, gern«, tippte Isabella in ihr iPhone, sie hatte heute eigentlich nichts mehr vor. »Wo?«
»Bristol Bar, um 17 Uhr.«
»Machen wir 17.17«, schrieb Isabella, und Kathi schickte ein Smiley.
Im »Bristol« wusste der Barkeeper schon, wie sie ihren Campari mochte: möglichst mit Blutorangensaft, frisch gepresst, nicht zu viele Eiswürfel und einen Strohhalm in Gelb oder Grün oder Weiß, als Komplementärfarbe zum Rot des Cocktails. Isabella legte großen Wert auf Ästhetik und war sehr detailverliebt, manche nannten es auch anstrengend. Bei den kleinen Dingen des Lebens konnte sie geradezu radikal sein. Isabella hasste zum Beispiel Kapselkaffee, George Clooney hin oder her. Warum sollte man auf den Duft von frisch gemahlenem Kaffee in der Früh verzichten? Oder Maresi Leicht statt Milch, frischer Milch. Den Zusatz »länger frisch« empfand sie als Verrat am Wort »frisch«. Entweder war etwas frisch oder eben nicht.
Kathi wartete schon mit zwei Gläsern Campari Orange an der Bar, als Isabella Punkt 17.17 Uhr eintraf.
»Hey Süße!« Bei Kathi klang das gar nicht wie der gefürchtete Wiener Charme, sondern vertraut und ehrlich.
»Hey«, erwiderte Isabella leise. Sie wollte ihr eigentlich von Coelho erzählen, von den wochenlangen erfolglosen Versuchen und dass das Interview nun doch noch zustande kam.
Stattdessen erzählte sie ihrer Freundin von Christoph Regner. Von seinen Worten, seiner Stimme, seinen Augen, seinen Händen, dem Ring. Von dem Gefühl, das sie vollkommen überwältigt hatte.
Kathi spielte mit einer roten Locke. Ihr Blick blieb konzentriert und ernst. »Und was wirst du jetzt tun?«
Isabella überlegte. »Vielleicht gar nichts«, sagte sie.
»Der Ring kann auch ein Glücksbringer sein«, meinte Kathi.
Isabella musste lachen. Das war typisch Kathi, für sie hatte das Geheimnisvolle, Unwahrscheinliche immer mehr Logik als das ganz Normale.
»Ich glaub’ schon, dass es ein Ehering ist«, sagte Isabella.
»Und wenn schon«, zuckte Kathi mit den Schultern, »man kann nicht auf jedes Detail Rücksicht nehmen. Du schreibst ihm morgen ein E-Mail!«
Isabella drehte ihren Strohhalm hin und her, bewegte die Eiswürfel im Kreis. Die Sache war ihr plötzlich sehr unangenehm. Was hätte sie für einen Grund, einem fremden Mann zu schreiben? Den Eindruck zu erwecken, als wäre sie, mit bald 60, auf der Suche?
Kathi las ihre Gedanken. »Ein Mail heißt noch gar nichts. Vielleicht schreibt er höflich zurück und das war’s.«
Aber Isabella wusste, dass das nicht stimmte. Wenn sie ein Mail schrieb, dann hieß das für sie sehr viel. Dann waren es keine leeren Worte. Dann schlug sie einen Weg ein, von dem sie nicht wusste, wohin er sie führen würde. Vielleicht würde nichts mehr in Isabellas Leben so sein wie es bisher war. Und bisher war es eigentlich – zumindest lange Zeit – ziemlich perfekt gewesen.
»Ich will ihm schreiben und gleichzeitig will ich ihm auf keinen Fall schreiben«, sagte Isabella. »Kannst du das verstehen?«
Kathi nickte.
»Noch zwei Campari?«, fragte der Barkeeper. Isabella winkte ab.
»Ach Süße«, seufzte Kathi und bestellte die Rechnung.
Als Isabella vom Opernring in Richtung dritter Bezirk fuhr, konnte sie ihre Angst ganz deutlich spüren, aber auch etwas anderes. Eine seltsame Mischung aus Mut und Freude.
In diesem Moment begann es am Abendhimmel von Wien sanft zu schneien.
Von: Isabella Mahler
An: Christoph Regner
Montag, 2. Dezember, 13:12 Uhr
Sehr geehrter Herr Regner,
ich habe Sie am Freitag in »Guten Morgen Österreich« gesehen.
Bitte nicht falsch verstehen, wenn ich Ihnen das jetzt schreibe. Die Geschichte mit den zwei Jugendlichen aus Guinea hat mich sehr berührt, noch mehr aber die Art, wie Sie sie erzählt haben.
Liebe Grüße
Isabella Mahler
Von: Christoph Regner
An: Isabella Mahler
Montag, 2. Dezember, 14:56 Uhr
Sehr geehrte Frau Mahler,
so eine herzliche Rückmeldung von Ihnen zu erhalten, das hätte ich nie erwartet. Tut der Seele echt gut …
Danke dafür und jetzt ganz ehrlich: Ich finde Ihre Interviews auch berührend, von Menschlichkeit und Respekt getragen, dennoch hinterfragen Sie stets kritisch. So finden Ihre GesprächspartnerInnen auch das Zutrauen, ihre Alltagsmaske abzulegen und sich ein Stück weit zu zeigen.
Alles Liebe
Christoph Regner
Von: Isabella Mahler
An: Christoph Regner
Dienstag, 3. Dezember, 12:03 Uhr
Sehr geehrter Herr Regner,
danke, dass Sie mir so lieb zurückschreiben. Ich musste an Kreisky denken, der gesagt haben soll: Sie wissen gar nicht, wie viel Lob ich vertragen kann!
Nein, im Ernst: Die »Welt der Schmerzen«, wie Sie es genannt haben, so zu erklären, dass sie fühlbar wird, ist schon eine Gabe.
Vielleicht ergibt sich ja einmal die Gelegenheit, dass wir einander begegnen. Ich würde mich sehr darüber freuen.
Liebe Grüße
Isabella Mahler
Von: Christoph Regner
An: Isabella Mahler
Dienstag, 3. Dezember, 17:17 Uhr
Sehr geehrte Frau Mahler,
vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, das haben
Sie sehr behutsam formuliert.
Ich würde mich auch freuen, Sie »analog« kennenzulernen. Leben ist Begegnung …
Haben Sie ein Lieblingscafé?
Mit lieben Grüßen
Christoph Regner
Von: Isabella Mahler
An: Christoph Regner
Mittwoch, 4. Dezember, 22:07 Uhr
Sehr geehrter Herr Regner,
mein Lieblingscafé ist eigentlich das Les Deux Magots in Paris. In Wien mag ich das Café Rathaus und das Westend. In der »Blu Style« im Hotel Radisson Blu werde ich übernächsten Donnerstagnachmittag bei der Feuerstelle Paulo Coelho interviewen. Spricht Sie da was an?
Isabella Mahler
Von: Christoph Regner
An: Isabella Mahler
Donnerstag, 5. Dezember, 10:48 Uhr
Sehr geehrte Frau Mahler,
ich hab mir oft gewünscht, das Amnesty-Haupthaus wäre in Paris, nicht in London.
Das Les Deux Magots kenne ich nur aus der Literatur. Coelho war Mitglied der antikapitalistischen »Alternativen Gesellschaft«, das spricht mich an.
Also werden wir einander auch bei der Feuerstelle im »Blu Style« begegnen? Bleibt nur noch die Frage, wann. Vor Weihnachten ginge bei mir noch der 12.12.
Sonst im neuen Jahr?
Mit lieben Grüßen
Christoph R.
Von: Isabella Mahler
An: Christoph Regner
Donnerstag, 5. Dezember, 12:41 Uhr
Sehr geehrter Herr Regner,
der 12.12. hätte mir gut gefallen, weil ich schöne Zahlen sehr mag. Aber an diesem Abend ist die Weihnachtsfeier unserer Redaktion. Am zweitschönsten nach dem 01.01.2020 finde ich eigentlich den 12.01.2020 – 120-120-20 – das ist ein Sonntag. Der 20.01.2020 gefällt mir auch gut. Ich lasse Ihnen den Vortritt.
Liebe Grüße
Isabella Mahler
Von: Christoph Regner
An: Isabella Mahler
Freitag, 6. Dezember, 00:08 Uhr
Liebe Frau Mahler,
20.01.2020 passt, um 20:01 Uhr dann wohl.
Ich wünsche Ihnen besinnliche, friedvolle Weihnachten.
Alles Liebe
Christoph Regner
Isabella spürte etwas Feuchtes an ihrer Wange. Sie öffnete langsam ihre Augen und wusste nicht, wer und wo sie war. In dieser ersten Sekunde nach dem Aufwachen gab es keine Zeit und keinen Raum, sie schwebte noch in der Traumwelt, es war ein Moment größter Verletzlichkeit. Prinzessin hatte sie angestupst und aufgeweckt, wie jeden Morgen. Schlaftrunken streichelte Isabella ihr zartes Fell, während die Tigerkatze sich wohlig an ihren Körper schmiegte und laut schnurrte. In der »Zeit« hatte sie gelesen, dass eine schnurrende Katze sich nicht immer wohlfühlt. Dass Schnurren oft eine Methode sei, mit der sich Katzen in stressigen Situationen selbst beruhigen. So selig, wie Prinzessin neben ihr lag, und ihr noch ein paar Minuten Dösen vor dem Füttern gönnte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie gerade Stress abbaute. »Ich steh ja schon auf«, murmelte Isabella, als Prinzessin erneut die feuchte Nase an ihre Stirn rieb. Mogli streckte sich, er wusste, das Katzenfrühstück war nah.
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