Das Wesen dieses Neuen, soweit es von der Musik ausging, beleuchten vielleicht einige Urteile Luthers über zeitgenössische Komponisten, wenn er zum Beispiel meinte, der Autor habe wohl die Regeln beobachtet, aber Lieblichkeit und Freiheit fehle, auch in der Musik gebe es Gnade und Gesetz, Musik müsse daher ungezwungen daherfließen, wie der Fink singe. Er lobte den Niederländer Josquin, der die Noten meistere, nicht von ihnen beherrscht werde. Zu den mathematischen Berechnungen, auf denen die von Luther hochgeschätzte, wesentlich konstruktive Musik des Mittelalters beruhte, sollte die Inspiration kommen, die Eingebung göttlicher Gnade, die keine Kunstfertigkeit erzwingen kann. Der Zusammenhang der evangelischen Musik mit der Bibel ist nicht nur dadurch gegeben, daß die Bibel die Quelle des evangelischen Glaubens ist, sondern daß auch hier Inspiration die schaffende Kraft ist. Sie mußte sich musikalisch im stärkeren Hervortreten und freierer Beweglichkeit der Einzelstimme, in einer Art von musikalischem Individualismus äußern. Diese Neuerung ging zwar von Italien aus; aber die Deutschen, die dort lernten, erfüllten die dramatische Spannung mit der Inbrunst, die das Wagnis persönlicher Überzeugung, der Durchbruch unmittelbarer Beziehung zum Göttlichen verlieh. Das Mysterium der Persönlichkeit, die Verwurzelung des einzelnen Ich im Ewigen entfaltete sich in Musik. Das Eingewickeltsein der Musik in die Theologie, von dem Walther sprach, zeigte sich in der protestantischen Musik des 16. und 17. Jahrhunderts, wie sie den Gehalt der Heiligen Schrift Satz für Satz, man kann sagen Wort für Wort ausschöpfte und durchleuchtete. Heinrich Schütz, dessen ernste und ehrwürdige Erscheinung neben den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges einhergeht, war fast ebensosehr Theologe und Lehrer wie Musiker; wie Luther die Bibel ins Deutsche, hat er sie in Musik übersetzt.
Nunc opus Uranie sonitu maiore – nun, Urania, bedarf es vollerer Töne! schrieb Kepler, als er auf der harmonischen Sternbewegung dahin aufsteigen wollte, wo die Uridee des Weltgebäudes verborgen ist, und die Tonsetzer aufforderte, ihm zu folgen, weil ihrem Geist das harmonische Weltall in Gleichnissen offenbart sei. Kepler hatte von der Musik dieselbe Auffassung wie Luther und wie der Kantor Walther, wenn er ausmalt, wie die seligen Geister sich gleichsam in Musik auflösen. Es ist die Vorstellung von einer jenseitigen Musik, die irdischen Ohren nicht vernehmbar ist, die aber Begnadete ahnen, und von der sie uns Gleichnisse in Erdentönen schaffen. Einst besuchte Luther ein niederländischer Musiker katholischer Konfession und traf den großen Ketzer, wie er mit mehreren Schülern ein Lied sang. Der Gast war von der Schönheit des Gesanges so ergriffen, daß ihm Tränen in die Augen traten, worauf ihm Luther, der es bemerkte, gleichfalls gerührt, die Hand reichte. Ich nahm sie, erzählt der Altgläubige, mochte es immer eine Ketzerhand sein. Die beiden Tonsetzer, die Luther am meisten verehrte, waren der Niederländer Josquin und der Kapellmeister am bayrischen Hofe, Ludwig Senfl, beide Katholiken. Aus den Briefen, die Luther an Senfl schrieb, spricht eine betonte, beinah zärtlich scheue Achtung. Da ist nichts mehr von dem zornigen Haß auf Papst und Papsttum, nichts mehr von dem Luther, der sagen konnte: Verflucht sei die Liebe bis in den Abgrund der Hölle, die erhalten wird mit Schaden und Nachteil der Lehre. Die Musik hat eine Region geschaffen, wo auch die bittersten Gegensätze ausgeglichen werden, wo sie kein Dasein mehr haben. In dieser unsichtbaren Kirche wohnt der offenbarte und wohnt auch der verborgene Gott, über den Worte nichts aussagen können. Ihr Fundament ist die Kirche des Mittelalters, von da schwingt sie sich auf und überströmt alle Grenzen. Geschlechter von Musikern, fromme, rüstige Baumeister, widmeten sich dem Bau des tönenden Gewölbes. Es erfüllte die unscheinbaren, nüchternen protestantischen Kirchen mit dem gespiegelten Glanze des Schauens von Angesicht zu Angesicht.
Im katholischen Süden trugen die Jesuiten dem dramatisch-tragischen Hang, der im deutschen Volke lebt, durch großartige Aufführungen Rechnung, die sie mit ihren Schülern veranstalteten. Es wurden alle erdenklichen Mittel aufgewendet, um das Schauspiel rauschend und zur Augenweide zu gestalten: wechselnde Dekorationen, Donner und Blitz, Aufzüge in phantastischen Kostümen, Chöre von Engeln, Musik und Gesang, obwohl die Musik in der Schule von den Jesuiten grundsätzlich abgelehnt wurde. Der Text mußte lateinisch sein. Trotz des Hineinspielens der oberen und unteren Welt in das Irdische, trotz reichlicher Mitwirkung des Wunders war der Charakter dieser Dramen eher rationalistisch. Hier wurde das Überirdische greifbar, sinnenfällig; in den Oratorien wurde auch das ganz Diesseitige und Gemeine zum Mysterium. Es handelte sich hier nicht um Befriedigung der Schaulust, die theatralische Darstellung würde sogar den aus Wort und Ton aufgebauten ätherischen Dom des Oratoriums zerstören.
In den Passionen Bachs und den Oratorien Händels ist die Musik-Tragödie zu einer Vollendung gelangt, die nicht übertroffen und nicht wieder erreicht werden kann. Der eigentümliche Umstand, daß die Schöpfer der neuen Musik, Luther, Praetorius, Schütz, Händel, Bach, in einem kleinen Stück deutschen Landes, in Thüringen und seiner nächsten Umgebung, geboren sind, drängt die Vermutung auf, es könne etwas von slawischer Musikalität in die deutsche eingeströmt sein. Zugleich aber erinnert er daran, daß von diesem Lande die Erneuerung des Glaubens ausgegangen ist. In den beiden Heroen der Musik, Bach und Händel, die im gleichen Jahre nicht weit voneinander geboren wurden, hat sich der Strom des lutherischen Protestantismus gleichsam in zwei Arme geteilt, so daß Händel vornehmlich das Kriegerische, das glorreiche Bewußtsein der Unüberwindlichkeit in Gott ausprägt, Bach vornehmlich die Innigkeit und den unergründlichen Tiefsinn der Gottverbundenheit. Händels Musik läßt an eine kursächsische Schulordnung des Jahres 1580 denken, die bestimmt, es sollten nur solche Gesänge geübt werden, die herrlich und tapfer seien; er beschwört die Helden des Alten Testaments, läßt ihren Harnisch blinken, krönt sie mit dem Lorbeer ruhmreicher Schlachten und reiht ihnen zuletzt den Erlöser an, der ungerüstet seinen heiligen Leib opfert. Aber auch der Messias ist dem Jesaias entnommen und schreitet in prophetischer Gewalt. In der Bachschen Passion erleben wir das Urgeheimnis von der Fleischwerdung des Wortes, von der tragischen Verschmelzung von Geist und Fleisch. Wie eine himmlische Antwort auf das Ringen Luthers um das Sakrament erklingen die Einsetzungsworte des Herrn, ein fremder Klang von jenseits der Sterne, der die schaudernde Erde berührt.
»Durch die Verderbnis des eisernen Jahrhunderts, in welchem wir leben, stürmen wie durch zwiefach geöffnete Pforten drei Ungeheuer herein: Atheismus, Barbarei und Sklaverei.« Es ist ein Ausspruch des württembergischen Theologen Johann Valentin Andreae, der den Dreißigjährigen Krieg miterlebt hat; grausame Worte für einen Angehörigen des Luthertums, dessen Begründer mit dem gereinigten Glauben ein reineres, schöneres Zeitalter hatte herbeiführen wollen. Die Barbarei sah er nicht zum wenigsten in der Verknöcherung der protestantischen Theologie, der unfruchtbaren Streitsucht und Gehässigkeit der Theologen, die Sklaverei in der Knechtung der Religion durch den Staat. Das Summepiskopat der Fürsten hatte die Cäsaropapie verwirklicht, die Melanchthon vorausgesehen und so sehr gefürchtet hatte; Andreae pflegte sie den leidigen Apap zu nennen, das umgekehrte Papsttum. Die Mehrzahl der Theologen war nur allzubereit, sich unter das Joch zu bücken; sie brauchten die Fürsten nicht mehr zu ermuntern, daß sie sich als Götter erwiesen: sie waren überzeugt, es zu sein.
In der Tat, als das dreißigjährige verheerende Feuer erloschen war, blieb ein aschenfarbenes Deutschland zurück. Von dem guten Samen, den Luther ausgestreut hatte, war mancher nicht aufgegangen und mancher verkümmert. Anstatt der verheißenen Freiheit war Gebundenheit und Enge gekommen. Sein freudiges Ergreifen des wirklichen Lebens hatte teils zu verantwortungslosem Genießen, teils zu moralisierender Engherzigkeit geführt; man ließ sich gehen oder man beherrschte sich mit zusammengebissenen Zähnen. Im Mittelalter hatte die Weitherzigkeit mit den menschlichen Leidenschaften, Torheiten und Lastern viel Geduld gehabt, Versöhnung und Ablenkung dafür gefunden; da die Schranken ihnen gesetzt waren, konnten sie sich sorglos ausleben. Die Schranken, die der Staat aufrichtete, waren unnachgiebiger, willkürlicher. Der Staat und der moralische Trübsinn des Protestantismus vernichteten die bunte Lust der Volkssitten, die Umzüge, Tänze und Spiele. Man war im protestantischen Norden stolz darauf, daß man in der Kirche nicht vor Bildern kniete und nicht den Rosenkranz durch die Finger zog; anstatt dessen hörte man lange und langweilige Predigten an, und über alles Tun und Treiben legte sich ein Überzug von Grämlichkeit. Bei den Katholiken erhielten sich zwar durch die Kirche gewisse Anlässe zum Zusammenströmen des Volkes, das immer Belustigungen mit sich brachte, Wallfahrten und Kirchweih; aber der zunehmende Absolutismus suchte doch auch hier die Unbändigkeit des Volkes zu zügeln. Die prächtigen Feste der Höfe schlossen die Teilnahme des Volkes mehr und mehr aus. Der protestantische Hoftheologe und der jesuitische Fürstenbeichtvater waren verschieden untereinander, aber im allgemeinen gleich unerfreulich.
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