Es ist eine der traurigsten Folgen der Reformation, daß ihre Anhänger sich von der Überlieferung loslösten, gleichsam ihr Gedächtnis abschnitten. Sie gewöhnten sich so sehr daran, alles zu schmähen, was vor der Reformation gewesen war, daß sie sich als ganz abgesondert von der Vergangenheit betrachteten, wie wenn ihre Ahnen nicht darin wurzelten und nicht davon getränkt gewesen wären. Was in der Zeit der Abgötterei geschehen war, mußte verwerflich sein. Sie dachten nicht daran, daß ihre Väter und Mütter oder Großeltern und Urgroßeltern in den Vorstellungen der papistischen Zeit gelebt hatten und vielleicht ehrbare Leute gewesen waren, vielleicht Großes geleistet hatten. Sie wollten ihr rühmliches Erbe nicht antreten. Diese Folge der Reformation machte sich zwar sofort bemerkbar, trat aber allmählich immer verhängnisvoller hervor. Das Gefühl der Anhänglichkeit an den Kaiser und des Zusammenhangs mit seinen Erbländern erhielt sich in den leitenden Kreisen zunächst noch; in allgemeinen herrschte im 16. Jahrhundert das Bestreben, sich dem Kaiser gefällig zu zeigen. Die entgegenkommende Stimmung erfüllte nicht nur das Kurfürstentum Sachsen, das sein Emporkommen dem Kaiser dankte. Ferdinand I. und Maximilian II. hofften immer noch auf die Möglichkeit eines Ausgleiches zwischen den Glaubensparteien, der liebenswürdige, kluge und scharmante Maximilian verhielt sich so, daß Katholiken und Protestanten ihn zu den ihren zählen konnten. Weil er die Calvinisten haßte, hielten sich auch die lutherischen Fürsten ängstlich vom Calvinismus fern, es war ein allseitiges Bestreben, die gegenseitigen Empfindlichkeiten zu schonen, nichts Explosives anzurühren. Erst als der Katholizismus unter dem Einfluß der Jesuiten und Bayerns wieder erstarkte und daran dachte, Verlorenes zurückzugewinnen, wurde der Gegensatz schroffer, unversöhnlicher. Die Verbindung mit Spanien, die durch die Einheit der Dynastie gegeben war, fügte sich deshalb gut in die österreichische Politik, weil Spanien im Gegensatz zu Frankreich stand, dem Erbfeind des Reiches. Die furchtbare Tragik des Reiches wollte, daß die protestantischen Fürsten, um sich gegen Österreich zu erhalten, darauf angewiesen waren, den Gegensatz zwischen Österreich und Frankreich auszunützen, obwohl er zugleich ein Gegensatz zwischen Frankreich und dem Reiche war. Man gewöhnte sich im protestantischen Lager daran, die Verbindung mit Frankreich als das einzige und notwendige Mittel zur Erhaltung ihres Glaubens und der Libertät, das heißt ihrer Souveränität, anzusehen. Auch als der Kaiser nicht mehr daran denken konnte, den Protestantismus auszurotten, blieb noch das Schlagwort, der blinde Gegensatz der Partei, die unüberwindliche Entfremdung.
Nachdem die protestantischen Fürsten die Bistümer Metz, Toul und Verdun an Frankreich ausgeliefert hatten, bemühte sich Karl V. mit dem Aufwand seiner letzten Kräfte, Metz zurückzuerobern. Die englische Gesandtschaft, der er damals Audienz gab, berichtete, wie bleich, einem Sterbenden ähnlich, er aussah, wie durchsichtig seine Hände waren, wie er sich vergebens bemühte, vernehmlich zu sprechen. Trotzdem, während ihm alle rieten, die Eroberung aufzugeben, sein Leibarzt Vesalius meinte, weder Karl noch einer von ihnen allen werde mit dem Leben davonkommen, verbot der Kaiser, vorn Rückzug zu sprechen, bis zuletzt die Notwendigkeit ihn zwang. Die protestantischen Fürsten kümmerten sich wenig mehr um den Verlust: ihr Territorium ganz in ihre Hand zu bringen, es ertragsfähig zu machen, war, wenn es pflichteifrige Herren waren, ihr Bemühen, und manche, wie der Kurfürst von Sachsen, haben dabei zur Hebung des Handels, des Handwerks, der Landwirtschaft viel getan. Aber der Reichsgedanke ging in ihren kleinlich eng umhegten Gebieten verloren. Er lebte in Österreich, war Österreichs Wesen. Durch Österreich, wenn es auch in seinem Glauben von Rom abhing, wehte der große freie Atem eines Weltreichs. Der Adel, der den Thron umgab, war deutsch, böhmisch, ungarisch, niederländisch, spanisch, italienisch. Zusammen mit Frundsberg, Salm und den braunschweigischen, pfälzischen und sächsischen Prinzen haben Alba, Tilly, Pescara, Wallenstein, Piccolomini und Montecuccoli die großen Siege Habsburgs erfochten. Noch im 16. Jahrhundert war es nicht selten, daß Deutsche sechs, sieben, acht Sprachen sprachen. Es war aber durchaus nicht so, daß die Weltoffenheit und der Weltverkehr zu einer Überfremdung Österreichs geführt hätten. In den Gebirgsländern Steiermark, Kärnten, Krain, Tirol überwogen durchaus die volkstümlichen deutschen Elemente. Selbst der Hof bewahrte trotz der spanischen Heiraten ein ausgesprochen deutsches Gepräge. Diese Heiraten waren Politik; sie entsprachen aber auch dem seelischen Bedürfnis der Habsburger, die so einheitlich gefärbt waren, daß ihre Mitglieder nur unter Verwandten sich ganz heimisch fühlten. Indessen die Aufnahme spanischer Frauen veränderte den Charakter der deutschen Habsburger nicht im spanischen Sinne: sie blieben weich, human, voll Humor und Spiellust, mehr oder weniger tätig, im allgemeinen ihrer königlichen Pflicht bewußt, aber in keiner Beziehung fanatisch. Die Musik, in die ihr Wesen eingebettet war, verlieh ihnen eine die irdische Sphäre leicht überschwebende Ungebundenheit, die sich bei den entarteten Sprößlingen, die zuweilen auftraten, in träumerischer Phantastik, mutwilligen Ausschweifungen, Nichtachtung jedes höfischen Zwanges äußerte.
Der krönende Mittelpunkt des Weltreichs Österreich war Wien. Altheilige Krönungsstadt war bis 1562 Aachen, Frankfurt, immer schon Wahlstadt, wurde Aachens Nachfolgerin, Kaiserstadt wurde Wien. Es ist die einzige Stadt Deutschlands, vielleicht des Abendlandes, die sich durch ihre Universalität und als Brennpunkt, wo Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit sich zauberhaft begegnen, Rom vergleichen kann. Es ist, als sei die Muse der Geschichte durch ihre Gassen gegangen und als durchströme sie noch ein Nachklang ihrer Göttergesänge. Noch zu Beginn des 15. Jahrhunderts war Wien eine mittelgroße deutsche Stadt, deren Monumentalität und Herrlichkeit der Stephansdom war. Aber früh schon zeigten sich doch die beiden Elemente, die sie charakterisierten, das völkerverbindende und das musikalische. Der Oberpfälzer Wolfgang Schmelzl führte 1548 in seinem Lobspruch Wiens an, daß man in diesem Paradiese hebräisch, griechisch und lateinisch, deutsch, französisch, türkisch, spanisch, böhmisch, wendisch, italienisch, ungarisch, niederländisch und kroatisch sprechen höre und ferner, daß es nirgendwo mehr Musiker und mehr Instrumente gebe. Zur Zeit Maximilians II. hatte die Stadt einmal die Ausweisung aller fremden Kaufleute verlangt und erreicht, aber nur ein paar Jahre hatte sich dieser mit Wiens Lage unvereinbare Beschluß durchführen lassen. Aus dem Reich kamen fortwährend, von den Kaisern berufen, Künstler und Dichter, die hier ihr Brot fanden. Sie entwarfen Theaterstücke, Festaufführungen für die erzherzoglichen Hochzeiten und Einzüge, in denen Musen und Sirenen mit Zwergen und wilden Männern durcheinanderspielten, die dann von den Malern und Holzschneidern aufgezeichnet wurden. In die Rosen- und Rebenkränze der fröhlichen Stadt wand das Jahr 1529 den Lorbeer des Türkensieges. Unter dem Kommando des siebzigjährigen Grafen Niklas Salm, der Leitung des Bürgermeisters Wolfgang Treu, dem Beistand des Pfalzgrafen Philipp, deutscher Landsknechte und spanischer Ritter, wurde der Ansturm des siegesgewissen Sultans Suleiman des Prächtigen zurückgeschlagen. Wien war nicht kriegerisch, aber es war heroisch. Über seinen Lustbarkeiten und seiner Liederfreude rauschten die Adlerflügel, bliesen die Tuben des Ruhms. Das triumphierende Barock vom Ende des 17. und Beginn des 18. Jahrhunderts vollendete die Erscheinung, die das Zeitalter der Ferdinande vorbereitet hatte. Ein Menschenalter nach dem Dreißigjährigen Kriege, kurz nach dem Falle Straßburgs, bewährte sich Wien wiederum als Befestigung der Christenheit, wie Schmelzls Lobspruch es nannte, indem es wiederum und diesmal endgültig das türkische Riesenheer zurückwarf. Das getretene, verarmte, gedemütigte Reich erlebte in Österreichs Siegen unvergängliche Glorie.
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