Ein Holsteiner, Wolfgang Ratichius, eigentlich Ratke, wollte damals durch eine neue Methode des Unterrichts, hauptsächlich in den Sprachen, aber auch in anderen Fächern, eine Umwälzung des gesamten geistigen und sittlichen Lebens herbeiführen. Jungius interessierte sich so lebhaft für die Pläne dieses Mannes, daß er mehrere Jahre dem Studium derselben widmete. Es sei nicht genug, sagte er in einem Gutachten darüber, nach bloßem Gutdünken zu unterrichten und mit der angeborenen Diskretion und Gescheitheit, sondern es gehöre dazu eine besondere Kunst, die Lehrkunst, welche beständige Gründe und gewisse Regeln habe, die sowohl aus der Natur des Verstandes, der Sinne, ja des ganzen Menschen, als auch aus der Eigenschaft der Sprachen, Kunst und Wissenschaften zu erweisen seien. Er sah eine Wissenschaft der Ethik, eine Wissenschaft der Pädagogik entstehen; man sollte nicht mehr dem Gefühl und auch nicht der Erfahrung folgen, sondern Gesetzen, die sich aus dem Wesen der Vernunft und des zu behandelnden Gegenstandes ergäben, man sollte sich auch nicht durch altverehrte Autoritäten blenden lassen. Paracelsus wählte sich den stolzen Leitspruch: alterius non sit, qui suus esse potest und bahnte der Arzneikunst neue Wege, ebenso Vesalius, der Leibarzt Karls V., durch die Untersuchung menschlicher Leichname. Alle diese Gelehrten knüpften überschwengliche Erwartungen an die neuen Bahnen, die sie einschlugen. Die bedeutenden Menschen des Reformationszeitalters und der Zeit des Dreißigjährigen Krieges waren sich bewußt, den Zusammenbruch einer Welt zu erleben, über deren Trümmern eine neue erwachsen müsse. Diese Welt, die der freie menschliche Geist bewußt errichtete, mußte tadellos, sie mußte mindestens vernünftig werden, da ja die menschliche Vernunft gereift war, nicht mehr gegängelt zu werden brauchte, sondern ihre göttlichen Schwingen entfalten konnte.
Im Jahre 1628 wurde Jungius nach Hamburg berufen, der Stadt, die, vom Elend des furchtbarsten Krieges unberührt, gerade jetzt sich zum Welthandelsplatz zu entwickeln begann. Diese Meerstädte und ihre klugen, wagenden Kaufmannsgeschlechter, die gewohnt waren, die Güter der Erde zu tauschen und, wenn nötig, mit dem Schwert zu schützen, gute Rechner und gute Kämpfer, bildeten den geeigneten Hintergrund für die entschlossenen Denker. Hier herrschte Verkehr mit Holland und England, wo das wissenschaftliche Leben sich ungehinderter entfaltete als in Deutschland; die 1660 in London gegründete Sozietät der Wissenschaften erbot sich, die Kosten zur Veröffentlichung sämtlicher Werke des Jungius zu tragen.
Wie man nicht sagen kann, daß der Protestantismus im Gegensatz zum Katholizismus die Toleranz gefördert habe, so kann man auch das Erwachen des wissenschaftlichen Geistes nicht der einen oder anderen Konfession besonders zuschreiben. Paris zählte im Anfang des 17. Jahrhunderts 50 000 Atheisten, und verhältnismäßig ebenso viele gab es in Holland. Im katholischen Frankreich und im calvinistischen Holland verbreitete sich zuerst eine von der Religion unabhängige, auf Philosophie und Wissenschaft gegründete Bildung. Andererseits herrschte an den lutherischen und an den jesuitischen Universitäten dieselbe starre Beschränkung. Zwar hatte sich in die protestantische Theologie von Anfang an eine Art wissenschaftlicher Geist eingedrängt. Indem man die Bibel, die Quelle des Glaubens, als Historie betrachtete, wurde auch an die Bibel Kritik angelegt und konnte das Leben Christi selbst untersucht und in Zweifel gezogen werden. Die grundlegenden Dogmen wurden umstritten und zergliedert, als ob es sich um Pendelbewegung oder Kristallbildung gehandelt hätte. Aber dieser scholastische Geist verdarb mehr die Religion, als daß er der Wissenschaft genügt hätte. Soweit sich eine geistige Bewegung überhaupt abgrenzen läßt, war die Wissenschaft ein Fortwirken des Wiederaufblühens der Antike, verbunden mit der Verweltlichung des 15. Jahrhunderts, die durch Luther noch einmal zurückgedrängt waren. Nach dem allmählichen Erlöschen der späten Glaubensglut regten sich die neuen Mächte mit verdoppelter Kraft.
Die Wissenschaft wirkte entgöttlichend, insofern sie, wenigstens auf ihrem Gebiet, von einem persönlichen Gott absah, und mechanisierend, indem sie die mit Notwendigkeit wirkenden Gesetze, die sie in der Natur suchte, auch im menschlichen Geiste finden wollte; aber sie wirkte auch befreiend. In die entschleierte Welt, die unbekannt und unermeßlich vor ihm lag, wagte sich der wissenschaftliche Mensch, ausgerüstet mit seinen gesunden Sinnen, seiner Vernunft und seiner Wahrheitsliebe. Er verachtete nicht grundsätzlich, was andere vor ihm gedacht hatten; aber es hemmte ihn auch nicht. Alterius non sit, qui suus esse potest. Er hatte kein anderes Ziel als das, was er mit seiner Ausrüstung erforschen würde; er war stark genug, um sich nicht selbst zu belügen, wenn das Ergebnis seiner Studien etwaige frühere Wissensschätze entwertete oder ihm teure Vorstellungen zerstörte. Er traute sich zu, die Welt umzugestalten, und tat es. Schon im Beginn des 18. Jahrhunderts hatte die Wissenschaft die Religion aus ihrer herrschenden Stellung verdrängt, nicht nur an den Universitäten, wo die Philosophie den Platz der Theologie einnahm, sondern auch im Leben.
Inhaltsverzeichnis
Lange bevor es im Dreißigjährigen Kriege zusammenbrach, spürten die Deutschen den Untergang des Reiches, dessen Träger sie waren. Er meldete sich in kleinen und großen Anzeichen, er ließ sich wittern in einer wunderbaren Herbstlichkeit der Luft. Ein Aroma wie von braunen Blättern, die zerfallen, ein Übermaß an Sinnesrausch und Frevel, ein gieriges Ausschöpfen von Vorstellungen und Gedanken, von Lust und Schmerz, alles deutete auf die Neige der Zeit. Es kann so nicht dauern, es geht dem Ende zu, das drängte sich allen auf, die nachdenkend inmitten des steigenden Verderbens standen. Der, welcher nach dem Ablauf von Jahrhunderten zurückschaut, sieht, daß das erwartete Ende eine Verwandlung war, und erkennt die neuen Gebilde, die sich zu formen und mit Lebenskraft zu füllen begannen. Unter den staatlichen Gebilden war eines, das ganz besonders das Wesen des sterbenden Reiches in sich aufnahm und weiterentwickelte, das war Österreich. Die Ostmark, die durch ihre Aufgabe, das Reich vor den hereinbrandenden Völkern Asiens zu schützen, sich stark gemacht hatte, so daß sie beinah unabhängig vom Reich geworden war, nahm nun den Grundgedanken des Reiches in sich auf: die Universalität, die Verbindung mit Rom und Italien; zugleich aber blieb sie verantwortlich für den Schutz nach Osten und belud sich, da sie inzwischen sich nach Westen ausgedehnt hatte, mit dem Schutz nach Westen. Seit Rudolf von Habsburg gab es immer wieder österreichische Fürsten, die klar erkannten, was für eine großartige, umfassende Aufgabe ihnen zugefallen war. Seltsam, wie Friedrich III., wenn er blumenzüchtend in seinem Garten hantierte oder auf einem Ochsenwagen von einer Reichsstadt zur anderen geschoben wurde, von der Weltherrschaft Österreichs träumte. Nicht immer glücklich in der Ausführung, hat Maximilian doch seherisch sicher seinen Nachkommen den gewaltigen Umkreis ihrer Aufgaben vorgezeichnet. Vom Reiche kaum unterstützt, beständig durch aufreibende Kämpfe um des Reiches Beisteuer zu den Türkenkriegen gehemmt, wendete er sich hauptsächlich gegen das an Mitteln reiche, unternehmende Frankreich, das den Deutschen ihre überlieferte Vormachtstellung entreißen wollte. Daß Deutschland sich zwischen zwei so gut ausgerüsteten, hitzigen Feinden, wie Frankreich und die Türkei es waren, behaupten konnte, ist seiner und seines Enkels Unermüdlichkeit, ihrem großen Sinn, ihrer leidenschaftlichen Energie zu danken. Was für ein Aufstieg! Es ist kein Wunder, daß Maximilian sein Leben als eine denkwürdige Abenteuergeschichte niederschrieb. Durch seine Vermählung mit Maria, der Erbin von Burgund, gewann er der Dynastie und dem Reiche die Niederlande zurück, deren Kranz von Provinzen und Städten mit ihrem Reichtum und ihrer Kunst das bewunderte Vorbild der europäischen Staaten war. Dadurch, daß er seinen einzigen Sohn, Philipp den Schönen, mit einer Tochter der Könige von Spanien, Ferdinand und Isabella, vermählte, und durch eine Reihe unerwarteter Todesfälle wurde sein Enkel König des Reiches, das kurz zuvor Columbus mit einer neuen Welt jenseits des Meeres beschenkt hatte. Und was für einen Ausblick gewährte das Doppelverlöbnis mit den beiden Erben der Kronen von Böhmen und Ungarn, das Maximilian im Jahre 1515 zustande brachte! Dem Sohne des Königs, Ludwig, wurde Maximilians Enkelin Maria, Ludwigs Schwester Anna sein Enkel Ferdinand bestimmt, und so wichtig war dem Kaiser diese Verbindung, daß er sich seufzend verpflichtete, Anna selbst zu heiraten für den Fall, daß aus der Ehe mit Ferdinand nichts wurde. Diese beiden Eheschließungen, die 1521 vollzogen wurden, haben die Grundlage zur Vereinigung von Ungarn und Böhmen samt Nebenländern mit Österreich gebildet. Der bekannte lateinische Vers spottet: bella gerant alii, tu, felix Austria, nube – mögen andere Krieg führen, du, glückliches Österreich, heirate. Allein, die Heiraten waren doch nur wie die Fahnen, die die Seefahrer zum Zeichen der Besitznahme an der erreichten Küste aufpflanzten; dann mußte das Land erobert werden. Alle diese Hochzeiten ersparten den Habsburgern nicht zum Teil langwährende Kämpfe, die Österreich Blut und Geld kosteten. Maximilian I. und Karl V. brachten die meiste Zeit ihres Lebens im Harnisch zu, und die Regierungen ihrer Nachfolger waren, mochten sie auch persönlich nicht kriegerisch sein, von Kriegen erfüllt.
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