Man kann auch den Satz aufstellen: die Wissenschaft muß nicht notwendig zum Glauben in Widerspruch stehen. Tatsächlich bestand damals doch ein Gegensatz, teils wegen der Besonderheit des Offenbarungsglaubens, welcher eine andere Quelle für die Wahrheit nicht anerkennt und diese sogar für die gültigere hält als die menschliche Vernunft und menschliche Sinneswahrnehmungen, teils aber auch, weil das stete Untersuchen und Durchdenken der Außenwelt und der Glaube an seine Ergebnisse das Organ für das Übersinnliche, ja sogar das Organ für die unmittelbare Anschauung abstumpft, und schließlich weil sich ausgeprägter Sinn für das Übersinnliche selten zusammen mit ausgeprägtem Sinn für das Beweisbare in einem und demselben Menschen findet.
Ein gewisser Gegensatz zwischen wissenschaftlichem Denken und Glauben hatte sich schon in den Anfängen des Protestantismus bemerkbar gemacht. Luther selbst nannte zwar die Vernunft eine Hure und lehnte im Abendmahlsstreit Eingriffe des zweifelnden Verstandes in das Wort des Herrn mit Entschiedenheit ab; aber Zwingli und andere Reformatoren suchten das dem Verstande Unfaßliche als Symbol für etwas Faßliches zu begreifen, also das religiöse Geheimnis auf die Ebene des verstandesmäßig und sinnlich Erlebbaren zu verlegen, wie ja auch Luther selbst seinem eigenen Geständnis nach zuweilen vom Göttlichen wie der Schuster von seinem Leder sprach. Das Überirdische dem Begreifen näherzubringen war nun einmal eine Forderung der Zeit. In dem berüchtigten Siebengespräch über die verborgenen Geheimnisse erhabener Dinge des französischen Gelehrten Jean Bodin wird dem Ungläubigen die Äußerung in den Mund gelegt, das sichere Kriterium für Wahr und Falsch sei die Absurdität, und absurd sei der Satz Deus factus est homo. Die sich hier aussprechende Beschränktheit platten Verstandes, der die tiefsten Probleme übersieht, maßte sich gern die Autorität wissenschaftlichen Denkens an und war gleich bereit, Bibelworte, in die der Suchende letzte Geheimnisse kleidet, als Trug oder Torheit beiseite zu werfen. Die genialen Vertreter der Wissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert gerieten nicht auf diesen Irrweg. Nikolaus Kopernikus, der den ersten großen Zusammenstoß zwischen Wissenschaft und Kirchen glauben hervorrief, Domherr in Frauenburg, war ein gläubiger Mann, der der alten Kirche treu blieb, ohne, wie man aus dem Verhalten seines Freundes Giese schließen darf, dem Protestantismus feindlich oder gar verständnislos gegenüberzustehen. Die Zeitdauer seines Lebens läuft merkwürdigerweise so ziemlich neben der Luthers her: er ist zehn Jahre vor ihm geboren und drei Jahre vor ihm gestorben. Er war 20 Jahre alt, als der erste Brief des Columbus nach seiner Rückkehr im Druck erschien. Kopernikus, der in Bologna und Padova studierte, wurde vermutlich in Italien bekannt mit Zweifeln am ptolemäischen Weltsystem, die seit der Renaissance unter den Gelehrten umgingen. Die Grundzüge seines Systems entwickelte er schon früh und veröffentlichte sie im Jahre 1531 in einem vorläufigen Werk, nämlich daß es für alle Himmelskörper und ihre Bewohner nur einen Mittelpunkt gibt; daß der Mittelpunkt der Erde nicht der Mittelpunkt der Welt, nur der Schwerpunkt für alle Dinge auf der Erde ist; daß alle Planeten die Sonne umkreisen, die in den Mittelpunkt des Weltalls zu setzen ist, und daß, was man von Bewegungen am Himmel sieht, nicht von der Bewegung des Himmels kommt, sondern eine Folge der Bewegung der Erde ist. Diese umwälzenden Sätze erregten zunächst mehr Widerspruch bei den Protestanten als bei den Katholiken. Während Clemens VII. einige Freunde, darunter Kardinäle, in die vatikanischen Gärten einlud, um einen Vortrag über das kopernikanische System anzuhören, wagten die Wittenberger Professoren Rheticus aus Feldkirch und Reinhold aus Saalfeld ihre Begeisterung für Kopernikus aus Rücksicht auf ihre großen Kollegen Luther und Melanchthon nicht zu äußern, die Gegner des neuen Systems waren. Rheticus begab sich nach Frauenburg, um den großen Astronomen persönlich kennenzulernen, und lebte mehrere Jahre in seiner Umgebung. Als er in der Narratio prima ausführliche Mitteilungen über die Kopernikanischen Sätze machte, fürchtete er Angriffe weniger von Seiten der Kirche als von Seiten der Anhänger des ptolemäischen Systems, das so lange in Geltung gewesen und durch die Zustimmung des Aristoteles geheiligt war. Gerade damals aber trat, durch die Anklagen der Protestanten hervorgerufen, jene Wendung zu dogmatischer Starrheit und Ausschließlichkeit ein, der eine Reihe italienischer Denker zum Opfer fielen. Immerhin wagte es Kopernikus, sein Hauptwerk De revolutionibus orbium celestium libri VI ein Jahr nach der Einführung der Inquisition erscheinen zu lassen. Rheticus brachte das Manuskript persönlich nach Nürnberg, wo Petrejus es druckte. Im selben Jahre, 1543, wurde dem sterbenden Verfasser, einige Stunden vor seinem Tode, ein Exemplar seines Werkes überreicht. Ein Zeitgenosse verglich ihn dem Schwan, der sein Leben mit herrlichem Gesang beschließt. Dreizehn Päpste ließen das Werk unbeanstandet, bevor es auf die Liste der verbotenen Bücher gesetzt wurde. Die Aussprüche der Bibel, denen das neue System zu widersprechen scheint, kommen im 104. Psalm und im ersten Kapitel des Prediger Salomo vor. Der erste ist: Qui fundasti terram super stabilitatem suam, non movebitur in aeternum et semper. Der du das Erdreich gegründet hast auf seinen Boden, daß es bleibt immer und ewiglich. Und: Terra in aeternum stat. Oritur sol et occidit, et ad locum suam revertitur. Die Erde bleibet aber ewiglich. Die Sonne gehet auf und gehet unter und läuft an ihren Ort, daß sie wieder daselbst aufgehe.
Kepler, der des Kopernikus Lehre durch die von ihm gefundenen Sätze erst recht ausbildete und befestigte, traf mit genialem Blick das Wesentliche, indem er sagte, die Erde sei und bleibe der vornehmste Himmelskörper, weil sie das edelste Geschöpf Gottes, den Menschen, den er zu seinem Ebenbilde bestimmt habe, trage und nähre. In der Tat ist ja die Erde, welche Stellung ihr auch die Astronomie anweisen möge, Mittelpunkt des Weltalls, solange sie den Menschen trägt, der die Himmelskörper anschaut und das Weltall denkt. Kepler hatte in seiner Astronomie einen Abschnitt dem Beweise gewidmet, daß das kopernikanische System der Heiligen Schrift nicht entgegenstehe; aber er ließ es beim Druck fort, weil andere meinten, der Streit werde dadurch nur vermehrt werden. Zwar wurde Keplers Epitome Astronomiae Copernicanae im Jahre 1619 für Italien verboten; aber persönlich erfuhr er mehr Übelwollen von seinen Glaubensgenossen als von den Katholiken. Auch als alle protestantischen Angestellten aus den österreichischen Ländern ausgewiesen wurden, nahm man Kepler als im Dienst des Kaisers stehend aus. Der unglückliche, gemütskranke Kaiser Rudolf, der die astronomischen Forschungen begünstigte, wollte ihn in seiner Nähe behalten. Bei den Jesuiten, die sich viel mit Astronomie abgaben, fand er Freundschaft und Verständnis; schon begann die Wissenschaft eine neue Einheit über den Nationen und Bekenntnissen zu schaffen, nachdem das einigende Band des Glaubens zerrissen war. Auf protestantischer Seite, wo die Bibel an die Stelle von Papst und Konzil getreten war, den Punkt Unfehlbarkeit darstellte, nach dem die Mehrzahl der Menschen Verlangen trägt, war der Widerstand gegen alles, was der Bibel zu widersprechen schien, zunächst stärker als bei den Katholiken. Allmählich indessen kam diejenige Ansicht zur Geltung, die auch Kepler vorgebracht hatte, daß die Bibel als Quelle des Glaubens von Gott eingegeben sei, nicht aber in bezug auf irdische Dinge. Er wies auf die Regel hin, die Augustinus der christlichen Philosophie vorgeschrieben habe: »Was jene über die Natur der Dinge an wahrhaftigen Zeugnissen mit Gründen nachweisen können, davon wollen wir zeigen, daß es unseren heiligen Schriften nicht widerspreche.« Kepler war überzeugt, daß ein Widerspruch in der Tat nicht stattfinden könne, wenn man beide recht verstehe, da Gott sich sowohl in der Heiligen Schrift wie in der Natur und ganz besonders im Sternenhimmel offenbart habe.
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