Über dieses Buch
Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten, seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten. Dabei ist er ein grosser Könner in einem grossen Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, stilistisch abwechslungsreich und sprachlich wohlkomponiert.
«Schneesturm im Hochsommer» versucht, sein vielfältiges Schaffen abzubilden und damit einen literarisch hochinteressanten und oft überraschend aktuellen Schweizer Klassiker wieder breiter bekanntzumachen.
«Inglin ist seit Jahren genau der, von dem viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und der deshalb allen so präsent ist. Die Frage ist doch vielmehr: Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet? Er hat nie auf Effekt geschrieben. Er hat versucht, Verhältnisse zu beschreiben, wie sie sind. Eine Haltung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.» Peter von Matt
Foto © Keystone / Photopress Archiv
Meinrad Inglin (1893–1971) Sohn eines Goldschmieds, Uhrmachers und Jägers, wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Uhrmacher- und Kellnerausbildung, trotz fehlender Matura Studium der Literaturgeschichte und Psychologie in Bern, Genf und Neuenburg. Tätigkeit als Zeitungsredaktor, während des Ersten und Zweiten Weltkriegs Offizier im Grenzdienst. 1922 als Journalist in Berlin, danach als freier Schriftsteller in Schwyz.
Meinrad Inglin
Schneesturm im Hochsommer
Erzählungen
Herausgegeben von Ulrich Niederer
Nachwort von Usama Al Shahmani
Limmat Verlag
Zürich
Am Rande des Inselgehölzes, unter verwachsenen wilden Laubbäumen, von denen ein paar Äste fast bis auf das Wasser herabhingen, schob sich ein junges Gesicht durch das niedere Gesträuch, ein nackter Arm folgte behutsam und stützte sich auf einen bemoosten Block des schmalen felsigen Ufers. Eine Wasserjungfer hielt in der Luft vor dem Gesichte zitternd an und flitzte wieder weg. Der Jüngling schaute in eine Lücke des dünnen Schilfgürtels hinein auf frisch erblühte weiße Seerosen und spähend in das klare Wasser hinab. Er sah dort unten zwischen den langen weichen Blattstengeln und weiter draußen gegen den abfallenden Grund einen Schwarm fremdartiger Fische; sie glichen großen, auf der Kante ruhenden Silberhänden, und es kam ihm geheimnisvoll vor, wie sie, gegen Osten gerichtet, unter den Seerosen und ihren schwimmenden grünen Blättern in verschiedener Tiefe regungslos verharrten. Nach einer Weile blickte er auf und sah draußen den See im heißen Sonnenlichte flimmern, während dieser Uferstreifen im Schatten lag, er sah das grüne Dach der überhängenden Äste, die schneeweißen Blüten auf dem klaren Wasser, darunter wieder die ruhenden Fische, und er begann mit seinem stillen Gesichte wie in einem wunderbaren Traum erstaunt und glücklich zu lächeln.
Ein Anruf weckte ihn. «Baschi, Baschi!», rief eine jugendliche Stimme, und damit war er gemeint, er hieß Sebastian. Langsam kroch er zurück, stand auf und ging in seiner verwaschenen roten Badehose durch das Unterholz des Inselwäldchens an das gegenüberliegende Ufer. Dort hatten seine drei Kameraden, mit denen er gelandet war, das entliehene, geräumige Stehruderboot des alten Fischers in einer Felsnische festgebunden und machten am Ufer unter Tannen und Buchen ihre Angelruten bereit. Sie fragten ihn, wo er die Würmer verstaut habe. Er gab flüchtig Antwort, teilte ihnen aufgeregt seine Entdeckung mit und griff nach seiner Angelrute.
Da bekamen sie glänzende Augen vor Unternehmungslust und beeilten sich mit ihren Vorbereitungen. Sie waren sechzehn Jahre alt, Lateinschüler, die manchen freien Nachmittag fischend oder badend auf dieser einsamen Insel verbrachten, in einem heiteren Frieden, den sie vor allen Schulsorgen, vor Gewissensängsten, Weltanschauungsfragen und anderen Gespenstern bewahrten. Sie erlitten, wie ihre brüchigen Stimmen, den schwierigen Wechsel, der sie aus Knaben zu jungen Männern machte; hier fanden sie, ohne es recht zu wissen, als Knaben eine letzte Zuflucht und widerstanden auch meistens der eitlen Versuchung, sich untereinander wie Erwachsene zu benehmen. Während sie mit geübten Fingern den Angelhaken in den Regenwurm steckten, meinte der naturkundige Anselm, dass Baschi wahrscheinlich Brachsen gesehen habe, schöne, aber hier nicht eben seltene Fische.
«Ganz klar!», sagte Karl, ein stämmiger, lebhafter kleiner Bursche, dem alles schlüssig über die Zunge kam und dessen Stimmbruch auch am weitesten fortgeschritten war. «Übrigens sind sämtliche Fische in diesem See so genau bekannt, dass von fremdartigen keine Rede sein kann. Und nach deiner Beschreibung, Baschi, können es nur Brachsen sein …»
Robert, ein hübscher, kräftiger Junge in einer keilförmigen, knallroten Badehose, die an seinem wohlgenährten Körper etwas spärlich aussah, schloß die Beratung recht einfach: «Brachsen oder nicht, wenn wir sie nur erwischen. Los!»
Sie gingen, ihre Angelruten hochhaltend, durch das Gestrüpp zum Schattenufer, wo Robert, Karl und Anselm erregt flüsternd ihre Schnüre dicht nebeneinander vorsichtig zwischen die Seerosen hinabgleiten ließen.
Für Sebastian war kein Platz mehr, und er drängte sich nicht hinzu, er hatte die Fische entdeckt und als Erster betrachtet, das genügte ihm, mochten nun die andern die Entdeckung nützen. So ging es ihm oft, und er fand sich damit ab, ja er ahnte auch schon, dass mit diesem Los in Zukunft höhere Dinge zu erwerben waren als die handgreiflichen, die etwa Robert im Sinn hatte. Er war ein tiefgründiger, schüchterner Bursche, der neben seinen nur zum Teil geliebten Schulfächern Gedichte las und geigen lernte, indes die andern sich vorläufig mit Indianergeschichten begnügten. Hier aber lebte er wie seine Kameraden und mit ihnen übereinstimmend, froh, unbefangen und noch ohne Richtung. Er trug die Angelrute an den Platz zurück, den sie Schifflände nannten, und streifte zu seinem Vergnügen ein wenig herum.
Der See mit seinen stillen, von Schilf, Ried und Wald begrenzten, von Bergen hoch umgebenen Ufern glänzte im frühsommerlichen Nachmittagslichte. Die Insel lag dem westlichen Waldufer gegenüber auf einer Klippe, einem unregelmäßig aus dem Wasser ragenden Felskopf, den seit Menschengedenken eine kleine Wildnis bedeckte. Sie war nicht größer als ein mittlerer Dorfplatz, aber voll heimlicher Winkel und Schlüpfe. Sebastian stieg auf eine von jungen Tannen, Kiefern und Stechpalmen bewachsene Kuppe und drüben zu einer Uferstelle hinab, wo zwischen bemoosten Blöcken eine Wildente im Mai zwölf Eier ausgebrütet hatte. Er fand im weich gepolsterten Nest noch Reste der Eierschalen und flaumige Federchen, von denen er sich einige hinter die Ohren steckte. Er kletterte dem Ufer entlang zur Eglibucht und sah einem kleinen Barsch zu, der schwänzelnd halbwegs auf dem Kopfe stand und sein Maul heftig in den kiesigen Grund stieß, dann drang er zwischen Weiden- und Haselbüschen wieder ins Innere, wo Buchen, Eschen, Eichen verschiedenen Alters sich gegenseitig in die Kronen gerieten, und trat zuletzt auf eine sonnige Ufernase hinaus, die sie Hechtekap nannten. Sie fiel mit goldgelb blühendem Ginster schräg ins Wasser hinab; ihr war auf Schritteslänge eine kleine Felsbank vorgelagert, die sich knapp über die Oberfläche erhob. Mit einem weiteren Schritt über das untiefe Wasser erreichte man einen kahlen Buckel, der zu dieser Jahreszeit schon bei leichtem Wellenschlag überspült wurde, aber jetzt zwei Füßen eben noch trockenen Stand gewährte. Diesen Buckel betrat Sebastian, reckte sich in der strahlenden Sonne, blickte auf den See hinaus und blieb da stehen.
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