«Ich hab’ es mir anders überlegt», rief Anselm und trat entschlossen hinzu. «Ich fahre selber mit Fräulein Ilse hinüber.»
Robert vertrat ihm den Weg, gespannt, aber heiter noch, und entgegnete unnachgiebig: «Nichts da! Fräulein Ilse fährt mit mir, das haben wir so ausgemacht.»
Anselm ging nicht darauf ein. «Sei so gut!», sagte er und wollte Robert beiseiteschieben, um ans Boot zu gelangen, aber Robert ließ sich nicht verdrängen, er wurde auf einmal zornig, und beim nächsten Atemzug standen sich die zwei Freunde gegenüber, als ob sie einander wütend anfallen wollten.
«Ach, bitte, streiten Sie doch nicht!», rief Ilse. «Ich bleibe da, ich bleibe ganz bestimmt da, ich will nicht hinüberfahren.»
Hinter ihnen im Gebüsch ging Xaver vorbei. «Ja, es ist vielleicht am besten, wenn du dableibst, Ilse», rief er und hielt einen Augenblick an. «Es sieht ein bisschen gewitterhaft aus, und du mit deiner Gewitterangst … Wenn du etwa plötzlich heimfahren möchtest und bist noch da drüben, dann geht das nicht so rasch.» Damit schlenderte er gelassen weiter.
Ilse drehte den hitzig entzweiten Freunden den Rücken und lief ihrem Vetter nach. «Du, wenn du wirklich meinst, dass ein Gewitter kommt, dann wollen wir doch gleich wegfahren», sagte sie ängstlich.
«Vorläufig ist keine Gefahr», erwiderte er. «Wir bleiben noch.»
«Ja, nur … mir ist etwas unbehaglich, ich möchte doch eigentlich heimfahren …»
«Das wäre aber schade, du! Bei dieser Hitze ist es doch hier am allerschönsten. Warte ruhig ab, zuletzt baden wir vielleicht alle. Ich will noch ein wenig fischen … Das könntest du übrigens auch einmal versuchen, es ist sehr amüsant. Anselm zeigt dir das gern, komm! He, Anselm!»
Ilse senkte den Kopf und blickte dem Nahenden schuldbewusst von unten her in die treuen Augen. Xavers Vorschlag aber kam nun ihnen beiden gelegen, er gab ihnen das Mittel in die Hand, sich zwanglos wiederzufinden, ohne den zarten Kern des neuen peinlichen Vorfalls berühren zu müssen. Sie gingen eilig ans Werk. Anselm machte ein Haselrütchen zum Fischen bereit, Ilse nahm es lernbegierig in Empfang und ließ den Wurm an einer untiefen Stelle auf den Grund des Wassers gleiten. Sie hatte Glück, ein Barsch verschluckte den Wurm vor ihren Augen, sie zog und hob ihn verblüfft heraus, einen dunkel gestreiften kleinen Räuber, der die stachlige Rückenflosse stellte. Anselm nahm ihn ihr ab, erneuerte den Köder und zeigte ihr einen noch günstigeren Fangplatz, einen Uferstreifen, der mit Steinblöcken und Gestrüpp sich zwischen Hechtekap und Eglibucht hinzog. Dort begann Ilse wieder zu fischen.
Dort aber lag, zwischen warmen Steinen halb verborgen, die Schlange, die alte Natter, die von den Jünglingen dank Anselms Fürsprache und Sebastians Andeutungen geschont worden war, die geheimnisvolle Urbewohnerin, die ihnen das Unsagbare bedeutete. Ilse, die noch nie eine freilebende Schlange gesehen hatte, aber das Grauen davor mit allen Stadtkindern teilte, musste ihr hier wohl früher oder später begegnen. Die Haselrute in der Rechten, den schlanken Leib mühelos vorgebeugt, sodass ihr die Locken über die Schläfen hinaushingen, den Blick suchend auf dem Grund des Wassers, wo die Angel mit dem Wurme lag, stand sie eine Weile geduldig da, dann trat sie leise auf den nächsten Stein hinüber und versuchte es hier von neuem.
Anselm, der sie nicht aus den Augen verlieren wollte, folgte ihr mit der Hechtrute in einigem Abstand, er sah sie wie eine hochgestielte Blume zierlich über das Wasser gebeugt und wartete auf einen Blick, ein Lächeln oder einen Anruf. Ilse aber war nun, angeregt durch den ersten Erfolg, so in ihr Tun versunken, dass sie ihren Beschützer zu vergessen schien, ja unter der noch unverhüllt brennenden Sonne nicht einmal das im Westen finster aufsteigende Gewölk beachtete; sie zog den Wurm aus dem Wasser, ging leise ein paar Schritte weiter und trat auf die Schlange. Mit einem hohen, heiseren Aufschrei warf sie sich herum, glitt aus, stürzte und schlug grauenhaft kreischend mit der Haselrute um sich.
Anselm sprang ihr sofort bei, sie umfasste ihn, auffahrend, mit beiden Armen und schrie, den entsetzten Blick auf die Natter gerichtet, zitternd und flehentlich: «Eine Schlange! Eine Schlange! Schlagen Sie sie tot, um Gottes willen, schlagen Sie sie doch tot!»
Anselm, von der bebend an ihn Geschmiegten nun endlich ganz aus seinem inneren Gleichgewichte geworfen, bestürzt von ihrer unsäglichen Angst und um der Schutzflehenden willen ritterlich zu allem fähig, packte in dieser Verwirrung die Natter, hieb ihr die Haselrute in den Nacken und erschlug sie.
Auf einem Steinblock, zehn Schritte vor ihm, tauchte Sebastian auf. «Anselm!», rief er erschrocken, hob beschwörend die Rechte und ließ sie langsam wieder sinken.
Ilse aber zog sich, in ein krampfhaftes Weinen ausbrechend, unter bitteren Anklagen zurück: «Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass es hier Schlangen gibt? Ich wäre niemals hierhergekommen, und ich will sogleich fort, Xaver, ich will fort. Keiner von euch allen hat mir ein Wort gesagt, es ist abscheulich, ich will euch nicht mehr sehen, ich werde nie mehr hierherkommen …»
Anselm hörte es. Er stand noch da, die leblos hängende Schlange in der Hand, blickte betroffen dem erzürnt weglaufenden Mädchen nach, schaute noch tiefer betroffen die tote Natter an und kam erschüttert zu sich. Der aufsteigende Schmerz, den er knabenhaft trotzig zu verhalten suchte, zuckte in seinem ganzen Gesicht und drang ihm tränenfeucht aus den Augen.
«Anselm!», rief Sebastian noch einmal und kam herbei und blickte ihn an.
«Ich habe sie erschlagen», klagte Anselm dumpf. Langsam wandte er sich ab und trug die Schlange ins Gehölz hinein. Die Kameraden scheu vermeidend, schlich er auf die düstere Kuppe und verbarg sich mit der erschlagenen Natter im Dickicht.
Die Insel lebte verlassen ihr eigenes einsames Leben. Ein Gewittersturm peitschte den Regen schräg in die Kronen ihrer Bäume und warf die Wellen klatschend an ihre steinigen Ufer, nachts darauf wandelten wieder Sterne über sie hin, und die Bäume tropften leise weiter. Ein Hecht stieg aus der Tiefe und verweilte lauernd zwischen den langen Blattstengeln der längst verblühten Seerosen, ein weißer Falter, der gaukelnd den See überquerte, ruhte hier aus, und eines Morgens stand ein grauer Reiher am Ufer hinter dem dünnen Schilfgürtel. Viele Tage und Nächte lang regnete es eintönig rauschend ins Laub, der See schien leise zu sieden, das Wasser stieg. In diesen Tagen aber bewegte sich von einem überschwemmten flachen Seeufer her ein sonderbares dunkles Köpfchen gegen die Insel, landete züngelnd am Hechtekap und zog einen langen geschmeidigen Leib hinter sich her; eine Schlange war hier angekommen, eine Natter. Sie rastete am Ginsterhang und verschwand wieder, aber nach der Regenzeit lag sie manchmal auf einem Uferstein in der warmen Spätsommersonne.
Endlich erschien eines Nachmittags auch wieder ein Mensch in einem alten Stehruderboot. Er ruderte sehr leise und zögernd, als ob er eine Scheu empfände, sich der Insel zu nähern, und landete ebenso leise zwischen zwei Uferklippen. Behutsam machte er das Boot fest und ging ins Gehölz hinein, ein Jüngling in einer verwaschenen roten Badehose, Sebastian. Gespannt und neugierig wie ein glücklicher Entdecker, der zum ersten Mal ein märchenhaftes Eiland betritt, streifte er still herum. Eine schöne junge Halbgöttin hatte ihn hier mit ihrem Zauber fast den Wundern der Insel entfremdet; aber er hatte sie nur angeschaut, nie berührt, nur geliebt, nicht begehrt und daher auch nicht verloren. Sie lebte als reines, süßes Bild beglückend in ihm weiter, und ihm allein war die Insel um dies Geheimnis reicher; während die tatkräftigen andern hier alles verloren hatten, war seiner tiefgründigen Schüchternheit dieser Preis von selber zugefallen.
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