Helgard Heins - Das alte Haus im Schneesturm

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Die Ärztin Doktor Sophie Winterberg trägt tiefes Leid in sich, weil ihr Mann vor fast zwanzig Jahren mit ihrem kleinen Sohn spurlos verschwand. Nachdem ihr Vater, der Landarzt, sie nach ihrem Zusammenbruch psychisch wieder aufgebaut hatte, schloss sie ihr Studium ab und arbeitet seitdem in einer Hamburger Klinik, besucht selten ihre Familie, gönnt sich keine Freude, macht Überstunden und übernimmt Schichten von Kollegen, bis ihr eines Tage klar wird, dass sie so nicht weiterleben kann. Mit dem Kommissar, der die Suche nie aufgegeben hat, und dessen Frau ist sie befreundet. Als er krank wird, verspricht er ihr, den Fall an seinen Nachfolger weiterzugeben. Sophie nimmt nun endlich das Angebot ihres Vaters an, seine Landarztpraxis in Nindorf zu übernehmen. Auf dem Weg dorthin wird sie verfolgt, bis der Fahrer bei Schneetreiben und Glätte kurz vor dem Ziel einen Unfall hat und sie ihm das Leben rettet. Während sie sich der Geborgenheit ihrer Familie und der Nachbarschaft in dem kleinen Dorf hingibt, geschehen rätselhafte Dinge. Dennoch spürt sie zum ersten Mal seit dem Verlust ihres
Sohnes ein wenig Glück. Sie findet ihre große Liebe und muss mancherlei Probleme lösen. Ein Zeitungsartikel über den Tod eines prominenten italienischen Paares bei einem Flugzeugabsturz und ein Brief von einem Notar in Rom wecken die Hoffnung, eine Spur ihres Sohnes zu finden. Sie fliegt nach Rom, hat eine eindrucksvolle Begegnung, aber ihn findet sie nicht. Ausgerechnet während einer der schlimmsten Schneekatastrophen, die jemals Norddeutschland heimgesucht haben, setzen bei ihrer Schwester die Wehen ein und die dramatischen Ereignisse spitzen sich zu. Auch wenn Sophie ihre neue Familie liebt, wird sie ihren inneren Frieden nur finden, wenn sie das Rätsel um das Verschwinden ihres Sohnes gelöst hat.

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Helgard Heins

Das alte Haus im Schneesturm

Roman

Cover-Design: B.Werbung Carola Behrens

Impressum

Copyright: © Helgard Heins

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Kapitel 1

Sie legte den Hörer mit zitternden Fingern auf. Ruhelos sprang sie auf und lief im Stationszimmer hin und her. Die Oberschwester saß am Schreibtisch unter der Scheibe zum Korridor und machte im Licht ihrer Schreibtischlampe die letzten Eintragungen des Tages, in Kürze würde Schichtwechsel sein. Sie sah auf, drehte sich um und starrte Sophie verwundert an.

„Mein Gott, Sophie, was ist denn los? Setz dich bloß hin, du machst mich ganz nervös.“

Sophie schob eine honigblonde Strähne ihres dichten, kinnlangen Haares, die ihr Gesicht halb verdeckte, hinters Ohr und blieb stehen. Sie schluchzte auf und sagte: „Hans Rosemann hatte einen Herzinfarkt. Sein Telefon war eben von einem anderen Beamten besetzt.“

„Hauptkommissar Rosemann? Das tut mir leid, und dann noch so kurz vor seiner Pensionierung.“

„Jetzt kümmert sich keiner mehr darum, wo David ist.“ Sophie sah so jammervoll aus, dass Schwester Melanie aufstand und sie auf den Besucherstuhl neben ihrem Schreibtisch schob. Dann ging sie nach nebenan und kehrte mit einem Becher zurück.

„Trink das, es wird dir gut tun.“

Sophie trank den Becher aus und schüttelte sich. „Das war Cognac!“

„Medizin. Du bist doch mit den Rosemanns befreundet, kannst du nicht Frau Rosemann anrufen?“

„Ja, aber wahrscheinlich hat Anne jetzt andere Sorgen. Ich werde sie später anrufen.“

Schwester Melanie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und musterte Sophie, die in sich zusammengesunken auf dem Stuhl hockte. „Geht es wieder? Eben warst du so blass, dass ich schon Angst um Dich hatte.“

„Weißt du, Melanie, ich bin froh, wenn ich diese letzte Woche hinter mir habe.“

„Wie soll ich denn hier ohne dich bloß klarkommen.“ Melanie verzog ihr Gesicht, als hätte sie in einen sauren Apfel gebissen. „Ich weiß, alle haben dich ausgenutzt, weil du immer bereit warst einzuspringen. Du hättest es ablehnen sollen, Dr. Sander zu vertreten. Du hättest diesen Urlaub auch dringend gebraucht. Aber Dr. Sander, muss ja unbedingt jedes Jahr über Weihnachten und Neujahr nach Gran Canaria in Urlaub fliegen. Ich glaube, seine Frau würde ihn wohl sonst in den Wind schießen.“

Trotz ihrer Betroffenheit musste Sophie darüber lächeln, wie Melanie sich in Rage redete. Sie stand auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Danke, meine Liebe. Du hast mich wieder aufgebaut.“

„Ja, gerade rechtzeitig, da kommen schon die ersten von der Nachtschicht. Bis Morgen, Sophie.“ Sie lächelten sich freundschaftlich zu.

Obwohl Sophie das Ende dieser Ära mit Ungeduld erwartet hatte, verging ihre letzte Woche im Krankenhaus wie im Flug. Die Koffer waren gepackt und standen im winzigen Appartement des Schwesternwohnheims für die Heimreise bereit. Alle Formalitäten zum Abschluss ihres Arbeitsverhältnisses im Krankenhaus waren erledigt, die Schlüssel und das Handy, das ihr für Bereitschaft und Notfälle zur Verfügung gestellt worden war, hatte sie zurückgegeben. Bereits am Nachmittag hatte sie sich von ihrem engsten Kollegenkreis bei Kaffee und Kuchen verabschiedet. Sie wollte nur noch bei Anne Rosemann anrufen, als das Telefon klingelte.

„Anne, eben wollte ich bei Dir anrufen. Wie geht es Euch?“

„Ich komme gerade von Hans. Er wurde von der Intensivstation schon auf die Innere verlegt. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Er kommt von hier aus gleich in eine Reha-Klinik. Ich werde mit ihm fahren.“

„Das ist gut, Anne. Ihr schafft das schon. Ich wünsche ihm von Herzen, dass er bald wieder fit ist.“

„Er wird gar nicht wieder arbeiten müssen. Bis zu seinem Renteneintritt im Mai wird er krankgeschrieben werden. Die Arbeit hat ihn am Ende doch sehr belastet. Und dann hatte er einen besonders schwierigen Fall, den er zwar noch aufklären konnte, aber als er abends nach Hause kam, klagte er über starke Schmerzen. Mitten in der Nacht bin ich mit ihm in die Klinik gefahren und dort hat man den Herzinfarkt festgestellt. Gott sei Dank sind wir so rechtzeitig da gewesen.“

„Ja, das ist besonders wichtig. Ich habe es vor einer Woche von einem Beamten erfahren, als ich Hans anrufen wollte. Ich habe mich absichtlich nicht vorher bei dir gemeldet, weil ich mir schon gedacht habe, dass du genug um die Ohren hattest. Eure Kinder haben dir sicher beigestanden.“

„Klar, sie haben ihren Papa oft besucht.“

„Heute ist mein letzter Tag. Ich fahre bald los. Nach Hause.“

„Und, freust Du Dich?“

„Ja, ich glaube schon. Es ist nur ein bisschen komisch, nach all den Jahren der Selbständigkeit wieder zu Hause zu wohnen.“

„Selbständigkeit oder Einsamkeit? Übrigens, hast Du denn in der letzten Stunde mal aus dem Fenster gesehen?“

„Was soll ich da sehen, es ist ja schon dunkel.“

„Kindchen, nicht nur das, es schneit auch wie verrückt und die Straßen sind glatt. Pass bloß auf. Kannst Du die Fahrt nicht auf Morgen verschieben?“

Sophie stand auf und sah hinaus.

„Anne, du hast Recht. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass es so schneit. Meine Familie erwartet mich heute. Außerdem werde ich gleich das Appartement an meine Nachfolgemieterin übergeben, wenn ich mein Gepäck abhole. Das meiste ist schon im Auto.“

„Eigene Möbel hattest Du gar nicht?“

„Nein, das Appartement ist möbliert und außerdem habe ich wenig Zeit dort zugebracht.“

„Stimmt, Du warst ja die meiste Zeit im Krankenhaus. Oder bei uns. Übrigens, Hans hat Dich nicht vergessen. Ich soll Dir sagen, dass er die Suche nach David seinem Nachfolger noch sehr ans Herz legen wird. Hans wird dafür sorgen, dass er mit dir Kontakt aufnimmt. Du sollst dir nicht so große Sorgen machen.“

„Ach, Anne, der liebe Hans, dafür danke ich ihm ganz besonders. Ich mache es wieder gut.“

„Das wollen wir hoffen. Wenn Hans erst in Rente ist, werden wir Ausflüge aufs Land machen, zu unserer Pflegetochter Sophie. Es soll besonders schön sein, dort abends im Sommer unter einer großen Kastanie auf dem Rasen zu sitzen, zu grillen und einen Wein dabei zu genießen.“

„Na, hoffentlich finde ich die passende Kastanie für Euch, damit wir darunter sitzen können. Liebe Anne, grüß Hans ganz, ganz herzlich von mir und viel Spaß bei der Reha. Dann kannst Du jeden Morgen schwimmen gehen. Und in Zukunft habt ihr auch endlich mal mehr Zeit für euch. Wir telefonieren wieder. Im Notfall kannst Du mich über Papa erreichen.“

Nach diesem Gespräch fühlte Sophie sich erleichtert. Sie sah sich auf der Station nochmals um. Der Stationsarzt und Schwester Melanie waren bei einem Patienten. Die anderen waren damit beschäftigt, die Patienten für die Nacht zu versorgen. Sophie verabschiedete sich kurz und verließ in aller Stille das Krankenhaus, in dem sie so viele Jahre und ungezählte Stunden gearbeitet hatte.

Kapitel 2

Eisiger Sturm aus Nordost trieb den feinen Schnee waagerecht vor sich her. Es war stockdunkel und die Schneeflocken tauchten als eine Unmenge schwarzer Punkte vor dem Scheinwerferlicht auf und prallten gegen die Windschutzscheibe. Lüftung und Scheibenwischer liefen auf Hochtouren, dennoch war die Sicht schlecht. Im dichten Feierabendverkehr fuhr Sophie auf der Bundesstraße stadtauswärts.

Bei Kollegen und Patienten gleichermaßen beliebt, hatte sie doch in den letzten Monaten gemerkt, dass ihre freundlichen und tröstenden Worte nicht mehr so recht aus dem Herzen kamen. Sie fühlte sich müde und ausgebrannt als Folge der strapaziösen letzten Jahre.

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