Lily machte das Licht aus und zog Sophie mit sich. „Ich bin nur eine Hausfrau und Mutter, vielleicht mit dem Talent, ein Zuhause schön und gemütlich zu machen. Das habe ich ja schließlich mal gelernt. Mehr Ambitionen habe ich nicht.“
Innerlich gab Sophie ihr Recht. Lily war intelligent und lieb und wunderschön, aber niemals ehrgeizig gewesen, obwohl sie ihren Beruf als Architektin bis zu Emmas Geburt mit Liebe und Enthusiasmus ausgeführt hatte.
„Ich muss rüber, bevor Emma erst wieder weint.“ Sie nahm das Babyphon, das sie in der Küche angeschlossen hatte, an sich.
„Erhol dich Morgen erstmal von allem und richte dich hier so richtig ein. Wir möchten, dass du dich bei uns wohl fühlst. Glaub ja nicht, dass wir dich wieder gehen lassen. Ich habe dich so vermisst, große Schwester. Du weißt doch, ich brauche immer mehr als nur eine, die mich bemuttert.“ Und während sie Sophie ganz fest in die Arme nahm, sagte sie: „Gute Nacht, schlaf gut und träum was Schönes. Wir sehen uns Heiligabend. Emma ist schon ganz aufgeregt, was der Weihnachtsmann ihr wohl bringt. Und Sarah putzt schon seit Tagen, hat eine Gans besorgt und wird noch jede Menge Kuchen backen. Da werden wir essen müssen, bis wir platzen.“ Wenn Lily erstmal redete, kam Sophie kaum noch zu Wort. Das war schon immer so gewesen.
Sie drehte sich beim Weggehen im heftigen Schneetreiben noch einmal kurz um, winkte und eilte nach nebenan zu ihrem eigenen Heim.
Ein seltsam lang gezogener Klageton, den sie zunächst nicht zuordnen konnte, drang langsam in Sophies Gehirn. Sie erwachte aus einem tiefen, erholsamen Schlaf, wie seit langem nicht mehr. Oje, das ist Molly, sicher hat sie Hunger, die Ärmste, dachte Sophie und krabbelte noch halb benommen aus dem gemütlichen Bett und zog die Vorhänge auf. Die Sonne schien aus einem strahlend, blauen Himmel und ließ den Schnee glitzern, als ob tausend Diamanten darauf ausgesät wären. Sie warf sich ihren Bademantel über und ging ins Bad. Langsam kehrte der gestrige Abend wieder in ihr Bewusstsein zurück und gleichzeitig die Freude über ihr schönes Zuhause. Wie angenehm die Fußbodenheizung war, welch ein Luxus, freute sich Sophie.
Nach einer ausgiebigen Morgentoilette ging sie in die Küche und öffnete die Haustür. Das Thermometer zeigte fünf Grad minus. Molly blieb in der Tür stehen und weigerte sich, nach draußen zu gehen. Sophie fand das Dosenfutter, füllte das Schälchen und stellte es ihr hin, die sich gleich schnurrend darüber hermachte. Der Kaffee war inzwischen fertig und Sophie ging mit ihrem Becher durch die Wohnung und bewunderte alles, was Lily so fein für sie hergerichtet hatte. Sie hatte den halben Vormittag verschlafen und musste sich beeilen.
Der gestrige Sturm hatte ihre Einfahrt blank gefegt und den Schnee im Vorgarten aufgetürmt, so hatte Sophie nicht viel Arbeit mit dem Schneeräumen.
Sie fuhr nach Apensen und erledigte als erstes ihre Bankgeschäfte, die problemlos abgewickelt wurden, und ging dann zum Einwohnermeldeamt. Als sie ihren Abmeldeschein vorgelegt hatte, sah die Angestellte sie musternd an, dann stand sie auf und streckte ihr die Hand entgegen.
„Sophie, ich hab dich jetzt nicht wieder erkannt.“ Sophie überlegte und fragte zögernd „Jutta Plambeck?“.
„Ja, es ist lange her. Wir haben uns ganz schön verändert, nicht?“
Jutta Plambeck war eine ehemalige Klassenkameradin. Sophie hatte Jutta nicht so besonders gemocht. Sie war ihr zu neugierig gewesen und hatte gern über jeden geklatscht.
„Eigentlich hätte ich ja darauf vorbereitet sein müssen“, sagte Jutta mit wachem Blick.
„Wieso?“ fragte Sophie erstaunt und setzte sich auf den Besucherstuhl.
„Vor ein paar Tagen war ein Mann hier, der sich nach dir erkundigt hat. Natürlich konnte ich ihm nur sagen, dass du hier nicht gemeldet bist.“
„Verstehe ich nicht, was wollte er von mir?“
„Das weiß ich nicht. War ein toller Typ, schwarze Haare, dunkelbraune Augen, dunkler Teint. Er sprach mit Dialekt.“
„Was für einen Dialekt? Hast Du nach seinem Namen gefragt?“
„Nein, dazu hatte ich eigentlich keine Veranlassung. Der Dialekt war so schweizerisch, schien mir. Ich hab mal in der Schweiz Urlaub gemacht und seine Art zu sprechen erinnerte mich daran. Er fuhr einen dicken BMW, Hamburger Kennzeichen.“
„So einen Mann kenne ich nicht. Das ist seltsam. Woher weißt du das mit dem Auto?“
Jutta wies aus dem Fenster. „Er hat vor dem Haus geparkt.“
Sophie zuckte mit den Schultern. „Na ja, ist ja auch egal. Wenn er etwas Wichtiges von mir will, wird er sich wieder melden.“
Sie klönten noch eine Weile. Jutta zeigte sich beeindruckt, dass Sophie ihren Doktor gemacht hatte und als Ärztin arbeitete. Als sie sich verabschiedeten, versprach Jutta, Sophie anzurufen, falls dieser Fremde sich noch mal melden sollte.
Nachmittags fuhr Sophie nach Buxtehude, denn sie musste für ihre Familie noch Weihnachtsgeschenke einkaufen. In der Altstadt vor dem ehrwürdigen Rathaus stand ein riesiger Weihnachtsbaum, die Lichterketten über den Straßen beleuchteten die schön renovierten Fassaden der Fachwerkhäuser. Rund herum luden Buden zum Schlemmen und Kaufen ein. Vor den weihnachtlich beleuchteten Straßen am Fleth mit dem Blick auf den alten Ewer vor der Mühle war eine Bühne aufgebaut und eine Band spielte für die Menschen, die sich davor drängten. Die Menschen schoben sich durch die Straßen der Altstadt, besonders groß war der Andrang vor den Bratwurst- und Glühweinständen.
Sophie bummelte durch die Geschäfte und fand für alle etwas Passendes. Als sie ihre Geschenke im Auto verstaut hatte, kaufte sie in einem Möbelgeschäft auch noch für ihre Stube einen runden Tisch und vier Stühle, die vom Holz her zum Klavier passten. Dazu hatte sie noch einen wunderbaren Designerteppich in frischen, bunten Farben entdeckt, der sich auf ihren Holzdielen unter den neuen Esszimmermöbeln gut machen würde. Die Firma versprach die Lieferung für die kommende Woche. Sophie war hochzufrieden mit sich.
Es wurde bereits dämmrig, als sie den Düften von Crêpes und heißem Apfelpunsch – natürlich alkoholfrei – nicht mehr widerstehen konnte. Eigentlich sollte ich den Verletzten im Krankenhaus besuchen, dachte Sophie. Aber die Sehnsucht nach einer gemütlichen Stunde mit Molly vor dem Kamin überwog. Den Besuch konnte sie auf die kommende Woche verschieben. Dem Mann ging es sicher noch viel zu schlecht für einen Besuch, beruhigte sie ihr Gewissen.
Es war noch dunkel, als Sophie voller Elan aus dem Bett stieg. So gut wie in ihrem kleinen Haus hatte sie in all den Jahren nicht geschlafen.
Molly wollte es endlich mal wieder wagen, nach draußen zu gehen. Als Sophie die Tür aufmachte und in den klaren Sternenhimmel sah, stürzte Molly aus dem Haus und verschwand um die Ecke.
Nach einem ausgiebigen Frühstück packte Sophie liebevoll ihre Geschenke ein. Bei Sarah und Friedrich brannte schon Licht. So lief sie schnell mit dem Geschenk für Emma hinüber, damit Friedrich es unter den Tannenbaum legen konnte. Emma sollte ja glauben, dass der Weihnachtsmann die Geschenke gebracht hatte, während sie in der Kirche waren. Sarah werkelte bereits guter Dinge in der Küche und es roch verlockend nach Kuchen. Friedrich schmückte stillvergnügt in aller Ruhe den Tannenbaum, die Pfeife immer in Reichweite.
Molly wartete schon ungeduldig, die Nase platt vor der Tür und hob vor Ungeduld und wegen der Kälte abwechselnd ihre Pfoten hoch. Sie schoss wie ein Flitzbogen ins Haus, als Sophie die Tür aufgemacht hatte. Mit großem Appetit fraß sie ihren Napf leer, putzte sich ausgiebig, sprang auf die Fensterbank in der Stube und beobachtete das rege Leben beim Vogelhaus im Vorgarten. Es war noch viel Zeit bis zum Mittag und sobald es heller wurde, zog Sophie sich warm an. Vor dem Haus blieb sie stehen und sog die klare, kalte Luft ein. Sie wandte sich nach links, dort führte ein langer Sandweg aus dem Dorf heraus, der bis um den großen See herum führte. Ihr Haus war das zweitletzte auf der linken Seite, dann kam nur noch der Bauernhof der Familie Bredehöft. Auf der gegenüber liegenden Seite waren Wiesen und ein Stück weiter kam sie am Reiterhof vorbei. Der Hof gehörte Erwin Langen, einem Cousin ihres Vaters. Erwin war früher ein bekannter Trabrennfahrer gewesen. Er züchtete auch heute noch Traber. Wann immer das Wetter es zuließ, fuhr er im Sulky auf dem Sandweg um den See herum.
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