An einem der nächsten Tage schon aber kamen mit Sebastian auch Karl und Robert auf die Insel zurück. Karl hatte recht bekommen mit seinem Hass auf Ilse, das Unheil war eingetroffen und mit der Flucht des Mädchens am Ende nach seinem Wunsche verlaufen. Außerdem hatte sich Anselm bei ihm entschuldigt, und so war auch dieser Schatten verschwunden. Er verriet mit keinem Worte, ja sich selber gegenüber mit keinem Gedanken mehr, dass er noch eine tiefere Wunde empfangen hatte und sich jetzt die Insel zurückeroberte wie ein erstes verlorenes Stück seines Knabenparadieses. Eifrig ging er mit der Hechtrute ans Werk. Robert trat sehr unbekümmert auf, aber ihn erinnerte hier fast jeder Schritt und Tritt an die holde Beute, die seinen lebenskräftig erwachenden Sinnen entgangen war. Er empfand darüber ein dumpfes Missvergnügen, und so verweigerte auch ihm das Eiland die lautere Beglückung noch, die er früher hingenommen hatte wie eine beliebig erreichbare Lust. Anselm, der am wenigsten hoffen durfte, sein Paradies hier unverändert wiederzufinden, mied die Insel am längsten. Xaver aber, der alle Schuld auf sich nehmen wollte, bat ihn inständig um seine Rückkehr, und eines Nachmittags brachte er ihn mit. Anselm betrat den Schauplatz seiner Verstrickung, seiner Schuld und ritterlichen Niederlage reifer, denn er allein hatte sich hier ganz eingesetzt. Es war ein Lohn, den er nicht berechnen, ja noch nicht einmal erkennen konnte.
So verbrachten die Jünglinge wieder manchen freien Nachmittag auf der Insel, als ob hier nichts den heiteren Frieden unterbrochen hätte. Aber ein Sturm hatte ihn unterbrochen, eine geheimnisvolle Macht hatte sie alle berührt, zaubernd und Verwirrung stiftend mit ihrer Süße und Gefahr, eine Lebensmacht, von der sie wohl gelesen und reden gehört, aber vordem nichts gespürt hatten. Sie verschwiegen es voreinander, sie stellten sich noch einmal unter das stillere Gesetz der Insel und fischten ruhig weiter; mit dem Haselrütchen kletterte hier einer im Ufergestein herum und blickte auf den Grund des Wassers nach kleinen Barschen aus, ein anderer stand am Hechtekap, auf dem rechten Beine ruhend, die Hüften ein wenig verdreht, mit dem Unterarm den Schaft der langen Hechtrute stützend, und sah geduldig dem Korkschwimmer zu, ein Dritter setzte die Rute und schlenderte lautlos im Gehölz herum oder schaute durch eine Buschlücke versunken auf den See hinaus. Kein Lüftchen kräuselte die Fläche. Die wolkenlose Bläue wölbte sich in das lautere Wasser hinab, und auf diesem Spiegelbild des Himmels ruhte die Insel mit ihren bräunlich schimmernden Fischern und farbig glühenden Laubkronen wundervoll im klaren Herbsttag.
Auf der Eisenbahnbrücke, die das Doppelgeleise über die tiefste Schlucht der Bergstrecke hinwegführt, brüllte eines stürmischen Winterabends die Schildwache «Halt!» und ging mit schussfertig erhobenem Gewehr durch das Schneegestöber auf eine vermummte Gestalt zu, die sich der Brücke näherte. Die Gestalt blieb stehen, schob das verschneite Kopftuch beiseite und blickte mit einem blühend geröteten jungen Bäuerinnengesicht der Schildwache lächelnd entgegen. «Erschießt mich nur nicht!», rief sie.
«Ja so!», sagte der Soldat erfreut und nahm das Gewehr aus dem Anschlag. «Hab Euch nicht gleich erkannt.»
Die stattlich gewachsene, aber noch mädchenhaft wirkende Bauernfrau, die auf dem Weg vom Dorf zu ihrem Heimwesen hier auf einem hohen Steg den Bahndamm überschreiten musste, und der Soldat, der zu bestimmten Stunden hier die Brücke bewachte, hatten bei jeder Begegnung freundliche oder scherzhafte Worte gewechselt und einander jedes Mal besser gefallen. Der Soldat, ein lustiger lediger Bauernbursche, hätte sie zu seinem Vergnügen gern einmal besucht, aber da sie den Ehering trug, fand er sich nicht genügend dazu ermutigt.
«Seid Ihr auf dem Heimweg?», fragte er.
«Ja. Ich bin im Dorf unten gewesen. Aber hab Euch nur sagen wollen, dass man hier jetzt nicht mehr sicher ist.»
«Wegen der Laui, meint Ihr? Ja, auf dem Posten reden sie auch davon, aber unser Leutnant gibt nicht viel darum …»
«Der wird es ja wissen. Aber gelt, Euch hab ich es jetzt gesagt …»
«Halt!», rief der Soldat in diesem Augenblick einer zweiten Gestalt zu, die durch das Schneetreiben daherkam, dann schlug er, da nun diese Gestalt erstaunlicherweise nicht stehen blieb, mit einem erneuten brüllenden «Halt!» das Gewehr noch einmal an und wollte schon abdrücken, als ihm die Bäuerin den Gewehrlauf beiseitelenkte.
«Das ist doch der Seppetoni!», rief sie erschrocken. «Den werdet Ihr mir doch nicht erschießen wollen!»
«Der Tölpel, natürlich! Der ist hier schon vorgestern von einer Schildwache fast angeschossen worden … He du, geh heim!»
Der Schwachsinnige kam, vorgebeugt unter der Last eines beladenen Rückenkorbes, noch näher und grinste, unverständliche Laute ausstoßend, mit seinem armseligen, stoppelbärtigen Gesichte die Schildwache an. Erst auf den Befehl der Bäuerin ging er zurück und stapfte brummend über den Steg.
«Er hat halt Freude an den Soldaten», erklärte sie. «Ich bin ihm vorausgegangen, aber er hat mich rascher eingeholt, als ich dachte. Er ist bei uns Knecht.»
«Knecht? Da habt Ihr Euch einen rechten ausgesucht!»
«Ja, was wollt Ihr, wenn alles Mannenvolk im Militärdienst ist? Ich möchte ihn ja am liebsten wieder fortschicken, er ist ein Dreckfink und nicht immer gutartig, manchmal muss ich fast Angst vor ihm haben. Aber er kann tränken, misten, Holz scheiten und trägt mir die Ware vom Dorf herauf. Jetzt hat er ordentlich geladen, weil wir ein paar Tage lang nicht mehr hinuntergehen … eben wegen der Laui.»
«Aber wenn sie kommt, so fährt sie doch unter der Brücke durch das Tobel hinab?»
«Das schon, aber trotzdem ist man auf der Brücke nicht sicher …» Und die Bäuerin erklärte dem Soldaten, dass nach den Erfahrungen der Anwohner eine Staublawine niedergehen könnte.
Der Soldat blickte den Berg hinan, aber da ließ sich heute nur ein wenig vom unregelmäßig bewaldeten, durch das Flockengewirbel verschleierten nahen Steilhang sehen. Der Berg war über der Brücke mit einem lückenhaften Wald umgürtet, dann stieg er mit spärlich gegliederten kahlen Hängen noch zweitausend Meter hoch hinauf. Durch die breiteste Waldlücke fuhr im Frühling die Grundlawine oberhalb der Brücke in die Schlucht hinab, staute den Bach und trieb den Schneekegel zwischen den granitenen Brückenpfeilern durch, ohne Schaden anzurichten. Jetzt aber hatte seit drei Tagen und Nächten der immer noch andauernde Wintersturm den Berg mit trockenem Schnee überhäuft, der an den obersten Steilhängen den Halt zu verlieren und mitsamt den lockeren Massen der unteren Hänge durch den alten Lawinenzug hinabzustürzen drohte, doch eben nicht als schwere, schürfende Grundlawine, sondern als haltlos rasende Staublawine, die auf ihre berüchtigte Art die Luft unwiderstehlich vor sich her fegen, Tannen knicken und auf der Brücke einen Eisenbahnwagen umlegen konnte, noch eh der anbrausende Schnee auch nur die Pfeiler umbrandete.
«Übermorgen werden wir abgelöst», sagte der Soldat, «vielleicht wartet die Laui noch so lange, und sonst leg ich mich halt auf den Bauch, dann kann sie mir blasen.»
«Übermorgen?», fragte die Bäuerin und sah enttäuscht aus, dann wiederholte sie die Warnung mit einem so warmherzigen Eifer, dass der Soldat beim Abschied ihre Hand nun nicht gleich losließ.
Die Bäuerin fasste auch ihrerseits fester zu. «Kommt einen Augenblick da hinüber!», bat sie und zog ihn von der Brücke weg.
«Warum nicht!», sagte der Soldat. «Hier könnte man uns vom Posten aus noch sehen, und dann würden sie weiß der Teufel was für eine Geschichte draus machen.»
Die Bäuerin aber watete nach wenigen Schritten zu einem verschneiten eisernen Kreuze, wischte den Schnee von der daran angebrachten Tafel und wies schweigend auf die Schrift hin.
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