Meinrad Inglin (1893–1971) aus Schwyz zählt zu den bedeutendsten Schweizer Schriftstellern. Nach Abbruch einer Uhrmacher- und Kellnerausbildung sowie des Gymnasiums, studiert er Literaturgeschichte und Psychologie in Genf und Neuenburg. Arbeit als Zeitungsredaktor und ab 1923 als freier Schriftsteller. Er schreibt vor allem Romane und Erzählungen, auch einzelne Aufsätze und eine Komödie. Für sein Werk erhält Inglin 1948 den Grossen Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung und gleichzeitig den Ehrendoktortitel der Universität Zürich. Es folgen der Innerschweizer Kulturpreis (1953), der Gottfried-Keller-Preis (1965) und der Wolfgang-Amadeus-Mozart-Preis der Goethe-Stiftung Basel (1967).
MEINRAD INGLIN
Gesammelte Werke in zehn Bänden • Herausgegeben von Georg Schoeck Neuausgabe • Band 5
MEINRAD
INGLIN
Schweizerspiegel
Roman
Nachwort von Beatrice von Matt
Limmat Verlag
Zürich
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Umschlagbild: Meinrad Inglin 1935, zur Zeit der Arbeit am Schweizerspiegel
© 2014 by Limmat Verlag, Zurich
eISBN 978-3-85791-995-4
Im September 1912 kam der deutsche Kaiser in die Schweiz, um sich die Manöver des dritten Armeekorps anzusehen, für ihn ein unverfängliches Vorhaben, wie es schien, für die bescheidene Republik aber, die er in den zwei Jahrzehnten seiner Regierung einer solchen Beachtung nie gewürdigt hatte, eine Sensation.
An einem regnerischen, herbstlich kühlen Tage traf der hohe Gast mit ansehnlichem Gefolge in Zürich ein und stieg in einem Hause ab, dessen Vergangenheit seinem kaiserlichen Wesen angemessen erscheinen mochte, in der ehemaligen Villa Wesendonck. Die feierlich erregten Willkommensartikel der bürgerlichen Presse, die Begrüßung am Bahnhof durch die obersten Landesbehörden, die Ehrenkompagnie, die Fahrt durch die beflaggten Straßen und der Jubel des Volkes bewirkten einen Empfang, wie er auch einer reichsdeutschen Stadt nicht besser hätte gelingen können. Das militärische Schauspiel war vorbereitet, mit aller Sachlichkeit übrigens, die Manöver wurden reif zur Besichtigung. Die 5. Division bewegte sich als Flügeldivision einer supponierten blauen Armee vom Zürichsee her gefechtsmäßig gegen Nordosten und stieß an diesem Tage mit ihren Spitzen auf die 6. Division, die als Flügeldivision einer ebenfalls supponierten, vom Bodensee her anmarschierten roten Armee schon über das Thurknie bei Wil vorgedrungen war. Nur das Wetter ließ zu wünschen übrig. Die Nebelschwaden, die nach mehreren Regentagen auch jetzt wieder über die Stadt hinzogen, und der Gedanke an das schmutzige, nasse Manövergelände, das der Kaiser morgen besuchen sollte, ärgerten jedermann. Aber auch das Wetter zeigte sich noch gefügig, in der Nacht hellte es wider alle Erwartungen auf, und am nächsten Morgen blaute über dem ganzen Land ein unglaubwürdig wolkenloser Himmel.
An diesem Morgen verließen schon in der frühesten Dämmerung ungezählte Neugierige ihre Häuser und fuhren oder wanderten nach Kirchberg im Toggenburg, wo unter den Augen des deutschen Kaisers die Hauptschlacht zu erwarten war. Im Umkreis des hochgelegenen kleinen Dorfes tauchten denn bei Tagesanbruch überall zerstreute Gruppen und Züge von Menschen auf, die nach einigem Zögern die Hügelkuppe südlich des Dorfes bestiegen und ihr den Anschein eines riesigen Ameisenhaufens verliehen, während ringsum auf allen Straßen der lockere Anmarsch weiterdauerte.
In einem der ungeordneten Züge schritten drei Brüder aus Zürich, Severin, Paul und Fred, die Söhne des Brigadekommandanten Oberst Ammann. Sie schritten nicht friedlich nebeneinander, sondern getrennt hintereinander, weil Severin, der älteste, ungeduldig vorwärts drängte, Paul aber unter lässigen Protesten nur widerwillig folgte. Fred, der jüngste, schien im Zweifel, ob er es mit diesem oder jenem halten sollte, jedenfalls ging er in wechselnden Abständen zwischen ihnen und verhinderte auf diese Art wenigstens, daß sie den Zusammenhang gänzlich verloren.
«Wenn wir nicht rechtzeitig oben sind, hat es überhaupt keinen Wert, jetzt schon hinaufzugehen», rief Severin kühl belehrend, indem er knapp anhielt und die gemütlich Folgenden unwillig musterte. In seinen Kniehosen, der zugeknöpften Jacke, mit dem umgehängten Zeiß und der Ausweiskarte auf dem Hut erweckte er den Eindruck eines etwa dreißigjährigen Offiziers in Zivil, was den wirklichen Verhältnissen nicht entsprach. «Vermutlich ist er schon unterwegs», fuhr er fort, «der Zürcher Zug ist in Wil eingefahren, das haben wir ja gehört.»
«Wer ‹er›? Wer ist unterwegs?» fragte Paul verstockterweise, obwohl nun schon häufig genug vom Kaiser nicht anders die Rede gewesen war.
«Ach was!» sagte Severin und ging weiter, rief aber mahnend noch einmal zurück: «Wenn wir nicht beisammenbleiben, finden wir einander in diesem Gewimmel nicht mehr. Ihr könnt dann sehen, wer euch orientiert!» Damit schritt er endgültig aus, zielbewußt und aufrecht, ohne die vielen Bummler zu beachten, die bald beratend stehenblieben, bald zu irgendwelchen Infanteriestellungen in die Wiese hinausliefen.
Fred, ein lang aufgeschossener Bursche von sehr jugendlichem, gutmütig heiterm Aussehen, ermunterte Paul. «Komm du, es ist ja wurst!» sagte er lächelnd. «Und wenn wir Papa sehen, drückst du dich einfach!»
«Bitte, du wirst doch nicht glauben, daß ich mich vor Papa fürchte!» erwiderte Paul leise. «Da hätte ich ja zu Hause oder in Deutschland bleiben können. Aber diese Volksversammlung da … mir scheint, das wird ein zweifelhaftes Vergnügen.» Er drehte sein schmales, blasses Gesicht nach rechts und links, verzog leicht angewidert und etwas ironisch den vollen Mund, winkte dann aber mit der Rechten seinen eigenen Bedenken müde ab und schloß sich dem Bruder an. Er hätte auf Papas Wunsch in diesen Wiederholungskurs einrücken sollen, doch er besaß seinen Auslandsurlaub und war ein paar Tage zu spät heimgekommen; immerhin war er gekommen, wenn auch nur zu einem Besuch, Mama wenigstens konnte zufrieden sein, und Papa, der in diesen Manövern zum erstenmal eine Brigade führte, würde jetzt keine Zeit haben, sich mit ihm zu beschäftigen.
Die Brüder befanden sich vor dem letzten kurzen Anstieg zur Hügelkuppe, als rechts unter ihnen in der ausweichenden Menge ein paar Automobile sichtbar wurden, die auf dem nahen Fahrweg ebenfalls die Höhe erklommen. Das war ein glücklicher Zufall, der Fahrweg endete in ihrer Nähe oder verengte sich doch zum Fußpfad, keine dreißig Schritte über ihnen, und dort hielt denn auch, vom Publikum freilich zunächst verdeckt, der erste Wagen an. Aber die zudringlichen Leute wurden über die Böschung hinabgedrängt, und das Folgende spielte sich wie auf einer Bühne vor den Augen der Brüder ab. Severin packte plötzlich Freds Oberarm, drückte ihn heftig und starrte hinauf.
Dort oben stieg ein wohlgewachsener uniformierter Mann aus dem Wagen, wandte sich auf dem Trittbrett auffällig lachend noch einmal den übrigen Insassen zu, mit einer witzigen Bemerkung vielleicht, betrat dann den Erdboden und ging festen Schrittes zur Böschung, wo er stehenblieb. Während dieser wenigen Schritte erstarb sein Lachen, der letzte Rest von Heiterkeit wich aus seiner Miene. Vom vollen Schein der Sonne getroffen, die sich aus den östlichen Randnebeln erhoben hatte, blieb er in großartiger Haltung über dem Volke stehen, die behandschuhte Linke auf dem Säbelkorb, in der Rechten leicht, ja anmutig gesenkt den Stab eines Feldmarschalls, die linke Brustseite mit Orden geschmückt, den Kopf mit dem steilen Käppi ein wenig nach rechts gedreht; man erkannte seinen Schnurrbart, dessen forsch aufgerichtete Enden nach den ausgeprägten Backenknochen zielten, seine schönen Augen mit dem stolzen Ernst im Blick, sein ganzes, männlich straffes und selbstbewußtes Gesicht, das berühmteste Gesicht dieser Zeit. Er war es, Wilhelm der Zweite, der deutsche Kaiser.
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