Der allerhöchste Feldherr hatte in der ausgesprochenen Absicht, sich die Dinge aus der Nähe anzusehen, mit dem Manöverleiter eine Rundfahrt unternommen und an verschiedenen Punkten anhalten lassen, auch hier also, wo ein mit Füsilieren dicht besetzter Schützengraben an den Fahrweg grenzte. Er war in den Graben hineingestiegen, prüfte jetzt leicht gebeugt über die Brustwehr hinweg das Schußfeld und fragte den nächsten Füsilier wohlwollend heiter nach dem Ziel und der Entfernung dahin. Der deutsche Kaiser in einem schweizerischen Schützengraben zwischen einfachen Milizsoldaten – so etwas hätte sich niemand auszudenken gewagt, es war ein unerwartetes Bild von zwingender Wirkung, das die hohen Begleitoffiziere entzückte und das Publikum zu lautem Beifall hinriß.
Als der Kaiser den Graben verließ, machte Severin, eine nahe Wiederholung des Auftritts erwartend, in hochgestimmter Aufregung den Vorschlag, dem Wagen vorauszulaufen und ihm, sobald man überholt würde, zu folgen.
Paul fand diesen Vorschlag lächerlich. «Überhaupt», sagte er leise und scherzhaft melancholisch, «das ganze Theater ist deprimierend. Zuerst singt die Presse in beschämender Untertänigkeit das Loblied Wilhelms, und jetzt läuft das Volk zu Tausenden diesem Monarchen nach und jubelt ihm zu … in Deutschland weiß man, wie er über die Republikaner denkt, aber hier fällt man auf ihn herein … mit unserem nationalen Selbstbewußtsein und dem Stolz auf unsere Demokratie ist es, scheint’s, nicht mehr weit her …»
«Jetzt hör aber auf, ich bitte dich!» erwiderte Severin streng. «Und übrigens bist du ja auch da, nicht wahr, du läufst auch mit, das ist sehr konsequent!»
«Ja, das ist ein Fehler», gab Paul zu. «Ich kehre jetzt um und werde mit dem nächsten Zug heimfahren, ich habe genug.» Er hob lässig grüßend die Rechte, nickte Fred noch zu und ging wirklich fort.
Fred lief ihm nach und suchte ihn zurückzuhalten. «Bleib doch, es ist ja ganz egal, wie du denkst!»
«Ach, es ist weniger wegen der Konsequenz», sagte Paul abschwächend, «aber ich bin nicht für Volksaufläufe …»
«Jaja, es ist ein elender Rummel!»
In diesem Augenblick, eben als der kaiserliche Wagen auf dem holprigen Wege langsam anfuhr, rief Severin dringend: «Fred, komm! Vorwärts, vorwärts!»
«Laß ihn doch laufen!» riet Paul. «Komm du mit mir, wir wollen aus dem Rummel heraus.»
«Ach was, wir wollen doch beisammen bleiben», erwiderte Fred ärgerlich, ohne sich zu rühren, und sah mit finsterer Miene zu, wie Paul ihn freundlich nickend verließ und Severin dem Kaiser nachlief.
Paul schlenderte den Weg zurück, kam am südlichen Fuß des Feldherrnhügels vorbei und schlug die Richtung auf Batzenheid ein, in das Thurtal hinab, wobei er zwischen den östlichen Flügeln der beiden Fronten einer auffallenden Reitergruppe begegnete. Zuerst hörte er nur die rasch herantrabenden Pferde und wich in Erwartung einer Kavalleriepatrouille mit dem auch hier recht zahlreichen Publikum gemächlich an den Wegrand aus.
Die Gruppe bestand aber aus fremden Offizieren, die sich in Begleitung schweizerischer Kavalleristen in diesem Abschnitt umsehen wollten. Sie kamen in ihren ungewohnten bunten Uniformen überraschend aus der nahen Kurve geritten, mit dem französischen General Pau an der Spitze, der im Deutsch-Französischen Kriege den rechten Vorderarm verloren hatte. Dieser eindrückliche Zeuge eines bedeutenden geschichtlichen Ereignisses, eine gedrungene Gestalt mit weißem Schnurrbart und energischen Zügen, kam leicht vorgebeugt auf einem prachtvollen Schimmel dahergetrabt.
Paul riß, einer unüberlegten Regung folgend, den Hut vom Kopf und schrie, völlig gegen seine stille Art: «Vive la France!»
Der General hing die Zügel über den waagerecht vorstehenden Armstummel und legte grüßend die Linke an den Mützenrand.
«Vive la France!» wiederholte Paul mit Überzeugung, von den Zuschauern laut und bereitwillig unterstützt, während die Gruppe vorübertrabte und auf dem vielfach geschlungenen Wege hinter der nächsten grünen Böschung verschwand.
Indessen spürte Fred einen bitteren Ärger sowohl über die Brüder, die ihn leichtsinnig verließen, wie über sich selber, weil er sich nicht hatte entschließen können, dem einen oder andern zu folgen. Aber dieser Ärger machte rasch der trotzigen Selbstbesinnung Platz, daß er nicht jeder Laune zu folgen brauche, sondern nach seinem eigenen Gutdünken handeln könne. Es war ja eine Laune, die seine Brüder auseinandertrieb, sie hatte nichts mit dem zu tun, was hier eigentlich in Frage stand, sondern nur mit dem faulen Zauber, der daraus gemacht wurde. Hier handelte es sich doch um ein ernsthaftes Manöver, zwei Divisionen kämpften gegeneinander, und Papa selber führte eine Brigade; man brauchte also nicht mit der Nase in der Luft da herumzulaufen und jede Uniform zu begaffen, man konnte sich an die sachlichen Vorgänge halten, das hatte einen Sinn und war am Ende auch ein Vergnügen.
Er verstand noch nicht sehr viel von diesen sachlichen Vorgängen, die Rekrutenschule erwartete ihn erst im nächsten Frühjahr, aber der Gedanke an Papa ermunterte ihn. Warum sollte er sich nicht an den Vater halten, der als hoher Fachmann hier mitspielte? Das wollte er nun wirklich tun, er kannte den Abschnitt ungefähr, den die Ammannsche Brigade besetzt hielt, und wollte sich nach ihrem Befehlshaber durchfragen, um von ihm endlich zu erfahren, was hier eigentlich los war. Wann und wo er ihn finden und wie er dabei auf seine Rechnung kommen würde, blieb recht zweifelhaft, die Umstände waren ihm nicht sehr günstig, doch bedachte er nun keine Schwierigkeiten. Die Hände in den Hosensäcken, den Hut auf dem Hinterkopf, einen schweizerischen Militärmarsch vor sich hin pfeifend, ging er quer durch das grüne Gelände auf die Suche nach dem Vater, während irgendwo die Menge wieder hurra, hoch und bravo schrie, da und dort Gewehre knatterten, Kanonen donnerten, Schützenlinien vorgingen, und die Sonne am tiefblauen Himmel über dem ernsten Spiel der Menschen heiter und unbeteiligt in den Mittag stieg.
I
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«Das ist unser äußerstes Angebot, Herr Oberst. Wir halten es aufrecht bis Samstag mittag, nachher werden wir anderweitige Verfügungen treffen.» Der Präsident der Baugenossenschaft, ein wohlgenährter, sorgfältig gekleideter Mann, verharrte in der leicht vorgebeugten Haltung, in der er diese Worte gesprochen hatte, und blickte den Oberst verbindlich lächelnd an.
Oberst Alfred Ammann schloß seine Ledermappe, rückte mit dem Stuhl etwas vom Tische weg und lächelte ebenfalls. Er wußte so genau wie der Präsident, wie wenig diese Frist zu bedeuten hatte, aber während er sonst in Verhandlungen eine gewisse geschäftliche Taktik anerkannte und ernsthaft darauf einging, stellte er sie jetzt bloß, da ihm die Sache selber zu wichtig war. «Anderweitige Verfügungen …», antwortete er mit ironischer Nachsicht, «die stehen Ihnen heute schon frei … Es handelt sich für Sie nicht darum, ob Sie überhaupt bauen wollen, sondern ob Sie auf meinem Platze bauen können.»
Der Präsident zuckte freundlich die Achsel und lehnte sich zurück.
«Herr Nationalrat», begann der Dritte am Tisch, Anwalt der Genossenschaft, ein klug aussehender jüngerer Mann, der von Ammanns Offiziersrang weniger hielt als von seiner politischen Stellung, mit Unrecht übrigens, «so rasch werden Sie kein solches Angebot mehr erhalten … und später … kein Mensch kann sagen, ob sich die Stadt nicht nach einer andern Seite hin ausdehnen wird. Heute wissen Sie noch so genau wie wir, daß ein altes Haus an einem solchen Platze nicht zu retten ist. Ich will Ihnen nicht vorrechnen, was dieser feudale Sitz Sie jährlich kostet, aber wenn man unser Angebot bedenkt, wird kein Mensch glauben, daß Sie sich auf die Dauer so etwas leisten wollen.»
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