So wird auch das Fazit, mit dem A. Lindemann den neuesten Literaturbericht zum Thema beendet, mit Sicherheit weiter diskutiert werden. „Die mit der »klassischen« Hypothese (Mk-Priorität und Q) verbundenen »einfachen« Antworten auf die Synoptische Frage werden immer wieder problematisiert; aber eine plausiblere Hypothese, die tatsächlich allen Teilfragen gerecht wurde, wird offenbar nicht gefunden. Weder die Griesbach-Hypothese (Mt ► Lk ► Mk) noch die Farrer-Goulder-Hypothese (Mk ► Mt ► Lk) noch die Annahme, Mt sei literarisch von Lk abhängig noch die unterschiedlichen Annahmen eines »Deutero-Markus« gewinnen Zustimmung über das bisherige Umfeld hinaus. Erklärungsversuche, die mit einem stärkeren Gewicht der mündlichen Überlieferung rechnen, können die damit verknüpften oft sehr spekulativen Erwägungen naturgemäß nicht belegen, weil wir es zum einen ja eben nur mit schriftlichen Texten zu tun haben und weil zum andern diese Texte keinerlei Belege dafür bieten, dass es im Jüngerkreis Jesu und/oder im nachösterlichen Urchristentum ein Interesse am festen Wortlaut von Überlieferungen gegeben hat. Es gibt im Gegenteil Untersuchungen, durch welche die Hypothese der Mk-Priorität weitere Plausibilität erhält. Insofern wird man vielleicht doch von einem »Fortschritt« auf dem Weg zu einer Antwort auf die ‘Synoptische Frage’ sprechen dürfen. Ob eine Einbeziehung Marcions zu völlig neuen Einsichten führt, bleibt abzuwarten“ (S. 250).
Die zwischen den Evangelien von Markus, Matthäus und Lukas einerseits und den Evangelien von Matthäus und Lukas andererseits bestehenden zahlreichen wörtlichen Übereinstimmungen haben zu unterschiedlichen Quellen-Hypothesen geführt, die alle den Tatbestand nicht ohne Probleme erklären können. Die wenigsten Aporien bestehen eindeutig bei der so genannten Zwei-Quellen-Theorie, die freilich zugegebenermaßen mit einer uns aus der Überlieferung nicht bekannten und nur zu rekonstruierenden Quelle rechnen muss. Nachdem aber in Nag Hammadi das ► Thomasevangelium eine der Rekonstruktion der Logienquelle sehr ähnliche Gestalt aufweist, ist die Hypothese der Existenz von Q glänzend gerechtfertigt. Allerdings verlangt das Vorliegen der circa 50 wichtigen kleineren Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas gegen Markus eine weitere Erforschung der Frage, ob diese nicht z. B. im Verlaufe der handschriftlichen Überlieferung entstanden sind.
Literatur
1. Synopsen
1.1 In griechischer Sprache
Synopsis Quattuor Evangeliorum, hg. v. K. ALAND, Stuttgart 151996; Synopse der drei ersten Evangelien mit Beigabe der johanneischen Parallelstellen, hg. v. HUCK, A. / GREEVEN, H., Tübingen 1981; Synoptic concordance. A greek concordance to the first three gospels in synoptic arrangement, statistically evaluated, including occurences in Acts 1–5, hg. v. HOFFMANN, P. u. a., Berlin 1999 ff.
1.2 In deutscher Übersetzung
Synopse zum Münchener Neuen Testament, hg. v. J. HAINZ, Düssseldorf 42010; Synoptisches Arbeitsbuch zu den Evangelien. Die vollständigen Synopsen nach Markus, nach Matthäus und Lukas. Bearbeitet und konkordant übersetzt von R. PESCH in Zusammenarbeit mit U. Wilckens und R. Kratz, Zürich u. a. 1980/1981; Vollständige Synopse der Evangelien. Nach dem Text der Einheitsübersetzung hg. v. O. KNOCH, Stuttgart 1988.
2. Monographien und Aufsätze
BLACK, D. A. / BECK, D. R. (Hg.), Rethinking the Synoptic Problem, Grand Rapids 2001; BELLINZONI, A. J. (Hg.), The Two-source Hypothesis, o. O. 1985; DOWNING, F. G., Disagreements of Each Evangelist With the Minor Close Agreements of the Other Two, in: EthL 80 (2004) 445–469; DUNGAN, D. L. (Hg.), The Interrelations of the Gospels (BEThL 95) Leuven 1990; ENNULAT, A., Die ‚Minor Agreements‘. Untersuchungen zu einer offenen Frage des synoptischen Problems (WUNT II 62) Tübingen 1994; FARMER, W. R. The Synoptic Problem, Dillsboro 1974; FENDLER, F., Studien zum Markusevangelium (GTA 49) Göttingen 1991; FLEDDERMAN, H. T., Mark and Q. With an Assessment by F. Neirynck (BEThL 122) Leuven 1995; FUCHS, A., Sprachliche Untersuchungen zu Matthäus und Lukas (AnBib 49) Rom 1971; ders., Spuren von Deuteromarkus Bd. I–IV, Münster 2004; ders., Zum Stand der Synoptischen Frage, in: SNTU 29 (2004) 193–245; GOODACRE, M., The Case against Q. Harrisburg 2002; KAHL, W., Erhebliche matthäisch-lukanische Übereinstimmungen gegen das Markusevangelium in der Triple-Tradition, in: ZNW 103 (2012) 20–46; KLINGHARDT, M., Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien. Bd. 1 Untersuchung. Bd. 2 Rekonstruktion, Übersetzung, Varianten (TANZ 60) Tübingen 2015; HENGEL, M., Überlegungen zur Logienquelle, zum Lukas- und zum Matthäusevangelium, in: Ders., Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus. Studien zu ihrer Sammlung und Entstehung (WUNT 224), Tübingen 2008, 274–353; LAUFEN, R., Die Doppelüberlieferungen der Logienquelle und des Markusevangeliums (BBB 54) Königstein / Bonn 1980; LINDEMANN, A. (Hg.), The Sayings Source. Q and the Historical Jesus (BEThL 158) Leuven 2001; ders., Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1992–2000 (I), in: ThR 69 (2004) 182–227; ders., Neuere Literatur zum „Synoptischen Problem“, in: ThR 80 (2015) 214–250; McIVER, R. K. / CARROLL, M., Experiments to Develop Criteria for Determining the Existence of Written Sources, and Their Potential Implications for the Synoptic Problem, in: JBL 121 (2002) 667–687; MERKEL, H., Die Pluralität der Evangelien als theologisches und exegetisches Problem in der Alten Kirche (Trad. Chr. III) Bern u. a. 1978; ders., Die Widersprüche zwischen den Evangelien. Ihre polemische und apologetische Behandlung in der Alten Kirche bis zu Augustin
(WUNT 13) Tübingen 1971; MORGENTHALER, R., Statistische Synopse, Zürich 1971; NEIRYNCK, F. (Hg.), The Minor Agreements of Matthew and Luke against Mark with a Cumulative List (BEthL 37) Leuven 1974; NEIRYNCK, F., Evangelica II (BEThL 99) Leuven 1991; NEVILLE, D. J., Mark’s Gospel – Prior or Posterior? A Re-Appraisal of the Phenomenon of Order (JSNTSS 222) Sheffield 2002; POIRIER, J. C., The Synoptic Problem and the Field of New Testament Introduction, in: JSNT 32,2 (2009) 179–190; ders., Statistical Studies of the Verbal Agreements and their Impact on the Synoptic Problem, in: Currents in Biblical Research 7,1 (2008) 68–123; SCHMID, J., Matthäus und Lukas (BSt 23) Freiburg 1930; STEIN, R. H., The Synoptic Problem. An Introduction, Grand Rapids 1988; STOLDT, H. H., Geschichte und Kritik der Markushypothese, Göttingen 1977; STRECKER, G. (Hg.), Minor Agreements (GTA 50) Göttingen 1993; STREETER, B. H., The Four Gospels, London 1924; TUCKETT, C. M. (Hg.), Synoptic Studies (JSNTSS 7) Sheffield 1984; ders., The Revival of the Griesbach Hypothesis (MSSNTS 44) Cambridge 1983; WATSON, F., Q as Hypothesis. A Study in Methodology, in: NTS 55 (2009) 397–415.
1. Die Findungsgeschichte der Logienquelle Q
Die Zweiquellentheorie war das Ergebnis der Suche nach den Gründen für die großen Übereinstimmungen zwischen den ersten drei Evangelien im 19. Jahrhundert, wie wir in § 3 gesehen haben. Damit war das Markusevangelium als das älteste Evangelium und als Quelle für die Evangelisten Matthäus und Lukas erkannt, zugleich aber eine weitere Quelle postuliert, die nicht erhalten ist und deswegen nur rekonstruiert werden kann: die Logienquelle Q. Die Erkenntnis, dass Matthäus und Lukas außer dem Markusevangelium eine weitere gemeinsame Quelle benutzt haben müssen, die weitestgehend aus Worten Jesu besteht, ist fest mit den Namen K. Lachmann, Ch. H. Weiße und H. Ewald, aber auch mit dem von H. J. Holtzmann verbunden. Denn letzterer ist es gewesen, der der Erkenntnis Weißes aufgrund seiner Beobachtungen zum sprachlichen Charakter und zum Zusammenhang der einzelnen Einheiten untereinander erst zum Durchbruch und zu breiterer Anerkennung verhalf. Das Kürzel Q (für Quelle) wurde erstmals von J. Weiß benutzt und setzte sich seit 1899 durch P. Wernles Arbeit durch.
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