Dies war deshalb problematisch, weil sich die Schweiz auch nach dem Zweiten Weltkrieg «der Entwicklung in der modernen Kriegsführung keineswegs entziehen» konnte. 48Diese perzipierte man nach 1945 stark unter dem operativ-waffentechnischen Aspekt. Über den Konzeptionenstreit zwischen «Stabilen» und «Mobilen» sowie weitere innere Konflikte hinaus träumte die schweizerische Armeeführung mehrheitlich von Atombomben, die als «moderne Hellebarden» zur Bekämpfung des Feindes im Mittelland eingesetzt werden sollten, von Hunderten von Kampfflugzeugen, die, wenn nötig, mit Atomwaffen in die strategische Tiefe des Ostblocks vordringen, und von hochmechanisierten Einheiten, mit denen feindliche Kräfte im «Kriegstheater» besiegt werden konnten. Der Fokus lag erneut auf militärischen Aspekten – die weiteren Zusammenhänge einer auf verschiedenen Stufen einer Konflikteskalation funktionierenden Landesverteidigung wurden weitgehend ausgeblendet. Dass diese Waffen-Aufrüstungspläne dann nicht verwirklicht werden konnten, war nicht Resultat besserer Einsicht, sondern einer opaken Mischung aus freundeidgenössischen Kompromissen, unternehmerischer Interessenpolitik und äusseren Zwängen geschuldet. Im Einzelnen zu nennen sind: Fehlende Finanzen auf Bundesebene, aussenwirtschaftliche Abhängigkeiten und Präferenzen (unter anderem Kauf von US-amerikanischen Leichtwasserreaktoren), multilaterale Verrechtlichungsprozesse im globalen Massstab (atomare Non-Proliferationsabkommen). 49
Die Schweiz brachte sich mit diesen Lernschwierigkeiten, die mit einer Vereindimensionalisierung der Expertise zusammenhängen, «um die sicherheitspolitischen Früchte ihrer spezifischen und richtungsweisenden ‹Kriegserfahrung›» (so Wegmanns Schlussfolgerung). 50Zwar wurden im Verlaufe der 1970er-Jahre aussenwirtschaftspolitische Faktoren etwas stärker berücksichtigt. Doch von der Armeekonzeption 1966 über die Berichte zur Gesamtverteidigung von 1970 und 1973 bis hin zum Zwischenbericht 1979 sowie zum Bericht über die Friedens- und Sicherheitspolitik von 1988 lässt sich sagen, dass sie «um den Preis inhaltlicher Unschärfe und Unverbindlichkeit versuchten […] einen überparteilichen Konsens herzustellen» und dabei «oft als Referenz im innenpolitischen Kampf um Ressourcen» dienten. 51
Im 21. Jahrhundert wurden diese Problemstellungen deutlicher freigelegt. In einer konzisen Abhandlung zur «Rohstoffpolitik als Sicherheitspolitik» arbeiteten Henrique Schneider und Hans-Ulrich Bigler die zentrale Bedeutung «weltweiter Rohstoff-Austauschketten» heraus, die einerseits Wohlstandsgewinne ermöglichen und andererseits eine steigende Verletzlichkeit implizieren. 52Die Autoren würdigen die bundesrätlichen Vorschläge zur Energiewende, konstatieren darin jedoch einen «logischen Fehler»: «Versorgungssicherheit wird nicht mittels Importen gewährleistet. Die Frage muss umgekehrt lauten, nämlich: Wie kann man Versorgungssicherheit trotz Importen garantieren?» Die Schweiz als «wirtschaftlich hochgradig vernetztes Land und arm an eigenen Rohstoffen» sei «auf einen freien internationalen Marktzugang generell angewiesen» und deshalb «in besonderem Mass exponiert gegenüber Druck oder Nötigung mit wirtschaftlichen Mitteln». 53Zwar wäre es «strategisch, ordnungs- und sicherheitspolitisch falsch, die Schweizer Aussenpolitik einseitig auf die Rohstoffbedürfnisse der Wirtschaft auszurichten»; daraus folge aber «keineswegs, dass sich die Aussenpolitik nicht dafür einzusetzen hätte». 54Eine solche «in einem weiten Sinne verstandene» Sicherheitspolitik, welche die Abhängigkeitsmatrix der Volkswirtschaft und den Manövrierspielraum international tätiger Unternehmen angemessen berücksichtigt, bleibt jedoch unvermeidlich einem nationalen Paradigma verhaftet; es geht darum, «die Sicherheit eines Staates» zu verknüpfen mit «seiner Fähigkeit, die Lebensqualität seiner Bevölkerung und seine eigene Unabhängigkeit aufrechtzuerhalten». 55Dass die Vorbereitung auf einen Krisen- und Kriegsfall a priori nicht auf einen nationalen Handlungsraum beschränkt bleiben kann, wird durchaus mitgedacht. Doch die weitreichenden Konsequenzen dieser Einsicht bleiben auch hier unterbelichtet.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im «kurzen 20. Jahrhundert» – also in der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Kalten Krieges – die für die nationale Selbstbehauptung der Schweiz als Kleinstaat im europäischen und internationalen Massstab so wichtige Wirtschaft ein blinder Fleck oder zumindest eine stark ausgeklammerte Dimension der «schweizerischen Erfahrung» 56war. Dies verfestigte in einer longue durée die immer wieder prekären Asymmetrien in der Landesverteidigungskonzeption. Es liegt hier allerdings ein Problem vor, das nicht einfach «lösbar» ist, denn die Aporie einer nationalen Antwort (wie sie im Begriff einer «Landesverteidigung» angelegt ist) auf eine transnationale Problemlage (wie sie in Begriffen wie «Verflechtung», «Abhängigkeit» und «Verletzbarkeit» zum Ausdruck kommen) lässt sich grundsätzlich nicht aufheben.
1 Siehe dazu: Herren, Madeleine; Zala, Sacha: Netzwerk Aussenpolitik. Internationale Kongresse und Organisationen als Instrumente schweizerischer Aussenpolitik 1914–1950, Zürich 2002; Herren, Madeleine: Hintertüren zur Macht: Internationalismus und modernisierungsorientierte Aussenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA, 1865–1914, München 2000; Ernst, Andreas; Wigger, Erich (Hg.): Die neue Schweiz? Eine Gesellschaft zwischen Integration und Polarisierung (1910–1939), Zürich 1996.
2 Zu den ausserordentlichen Vollmachten, die später unter dem Begriff «Vollmachtenregime» gefasst wurden, vgl. Schneider, Oliver: «Diktatur der Bürokratie? Das Vollmachtenregime des Bundesrates im Ersten Weltkrieg», in: Rossfeld, Roman; Buomberger, Thomas; Kury, Patrick: 14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg, Baden 2014, S. 48–71; ders.: Die Schweiz im Ausnahmezustand. Expansion und Grenzen von Staatlichkeit im Vollmachtenregime des Ersten Weltkriegs, 1914–1919, Diss. (im Erscheinen), Zürich 2018.
3 Cornaz, Max: Zum Problem der Wirtschaftsneutralität. Die Handelsverträge der Schweiz im ersten Weltkrieg, Zürich 1952, S. 4–6.
4 Cornaz, Wirtschaftsneutralität, S. 8 f.
5 Cornaz, Wirtschaftsneutralität, S. 10. Zu den Schweizer Unternehmen während der Kriegszeit vgl. Rossfeld, Roman; Straumann, Tobias (Hg.): Der vergessene Wirtschaftskrieg. Schweizer Unternehmen im Ersten Weltkrieg, Zürich 2008; zur Aussenwirtschaftspolitik vgl. Ochsenbein, Heinz: Die verlorene Wirtschaftsfreiheit 1914–1918. Methoden ausländischer Wirtschaftskontrollen über die Schweiz, Bern 1971.
6 Zum Wandel der Neutralitätskonzeptionen vor und während des Ersten Weltkrieges vgl. Abbenhuis, Maartje M.: An age of neutrals: great power politics, 1815–1914, Cambridge 2014; Kruizinga, Samuël: «Neutrality», in: Winter, Jay M. (Hg.): Cambridge History of the First World War, Bd. 2 (The State), Cambridge 2014, S. 542–575.
7 Diese nationale Orientierung stabilisiert sich immer nur in transnationalen Austauschprozessen. Dabei ist die Imitation von Vorbildern ebenso wichtig wie das Lernen vom Gegner. Vgl. Aust, Martin; Schönpflug, Daniel (Hg.): Vom Gegner lernen: Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2007.
8 Böschenstein, Hermann: «Bundesrat und General im Ersten Weltkrieg», Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Nr. 4 (1960), S. 515–532, hier S. 517.
9 Mach, André et al.: Schweizer Wirtschaftseliten 1910–2010, Baden 2017; theoretisch noch immer massgeblich: Kriesi, Hanspeter: Entscheidungsstrukturen und Entscheidungsprozesse in der Schweizer Politik, Frankfurt a. M. 1980; für Teilaspekte interessant: Cassis, Youssef; Debrunner, Fabienne: «Les élites bancaires suisses, 1880–1960», Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 40 (1990), S. 259–273; Tanner, Albert: Arbeitsame Patrioten – wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz, 1830–1914, Zürich 1995; Gruner, Erich: Politische Führungsgruppen im Bundesstaat, Bern 1973.
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