Das ist der erste Schritt. Ich kenne sie dann schon ein wenig, sie sind nicht mehr bloss anonyme junge Menschen, die zufällig in meiner Klasse sitzen.
Erzählen Sie ihnen auch von sich?
Ich plaudere nicht aus dem Nähkästchen, das nicht, aber sie wissen einiges von mir. Ich erzähle so viel, dass ich aus der Anonymität heraustrete, dass ich für sie greifbar bin. Das schätzen sie.
Sie gehen mit ihren Fragen aber auch nie zu weit. Zu viel Privates erzähle ich nicht, das respektieren sie. Es kommt sehr selten vor, dass ich sie stoppen muss. Wenn sie hören, dass bei uns zu Hause zum Beispiel mein Mann kocht, dass wir die Hausarbeit teilen und ich dabei eher weniger mache als mein Mann – solche Informationen streue ich gezielt ein, je nach Thema, das gerade behandelt wird, kleine Indiskretionen, wenn man so will, auch mit erzieherischer Absicht –, dann sind das einfach Dinge, die ich beiläufig von mir preisgebe.
Hatten Sie schon mal wirklich problematische Schüler an der Berufsfachschule? Zum Beispiel einen Schüler in einer akuten Krise?
Erst kürzlich hatte ich einen solchen Fall – ein Schüler, dem man ansah, dass es ihm gar nicht gut ging. Ich habe ihn in einer Pause darauf angesprochen, sagte ihm aber auch, er müsse mir selbstverständlich nichts erzählen, ich bin nicht die Schulpsychologin, ich will auch nicht zu viel wissen. Aber dass ich gemerkt habe, dass es ihm nicht gut geht, dass ich ihn darauf ansprach und ihm die Möglichkeiten zeigte, die er in der Schule hat, um sich Unterstützung zu holen, das hat er geschätzt. Er hat sich anders von mir verabschiedet als sonst.
Es ist immer derselbe Punkt: Greifbar werden, spürbar werden, den Schülern das Gefühl vermitteln, dass wir sie ernst nehmen.
Sie nehmen sie ja offenbar ernst ...
Ich nehme sie wahr. Und wenn man sie wahrnimmt, nimmt man sie ernst. Ich habe keinen Grund, sie abzulehnen. Sie sind «meine Schüler». Das Vertrauen bei denen, die das Bedürfnis haben, sich zu öffnen, ist da. Dieses Öffnen hat bei mir allerdings Grenzen, sie sollen bei mir nicht ihr Innerstes ausschütten. Ich bin nicht Therapeutin, das wäre auch eine Kompetenzüberschreitung.
Das klingt als Statement sehr professionell. Gelingt Ihnen das denn immer? Träumen Sie zum Beispiel nie von der Schule?
Sie fragen nach der Belastung? Es hat mich keine Situation so belastet, dass ich darunter gelitten hätte. Ich hatte immer Instrumentarien, die ich in der Auseinandersetzung oder Beziehung zu den Schülern einsetzen konnte.
Wie waren Sie damals selbst als Schülerin?
Ich ging immer gern zur Schule. Ich habe Schule geliebt ... Ich war immer Klassenbeste, das ging auch im Studium so weiter, deshalb kam ich auch in Begabtenförderungsprogramme, erhielt Forschungsstipendien – so kam ich zum Beispiel nach Österreich und nach Deutschland.
Ich habe meine Lehrer geliebt, sie waren für mich Vorbilder. Ich habe für die Lehrer gelernt. Ich war dankbar um jedes Wissen, das sie mir mit auf meinen Weg gaben. Ich versuchte, vielleicht auch aus dieser Dankbarkeit heraus, immer eine gute Schülerin zu sein.
Das ist ja hier wohl etwas anders, Ihre Schüler sind offenbar nicht einfach nur dankbar.
Nein, überhaupt nicht, manchmal könnte man den Eindruck bekommen, dass man ihnen nie etwas recht machen kann. Es gibt Tage, an denen mich diese konsumierende Haltung, die alles für selbstverständlich nimmt, stört. Sie können das nicht wissen, weil sie in einer privilegierten Lage sind – hier herrscht Luxus. Aber sie sind in diesen Luxus hineingeboren, sie kennen nichts anderes. Dankbarkeit zu erwarten, wäre verfehlt, das erwarte ich auch nicht. Es geht ihnen hier so gut als Schüler, weil sie so viele Möglichkeiten und Freiheiten haben, eine so reiche Lernumgebung, wo sie sich als Schüler verwirklichen können.
Haben Sie nie revoltiert?
Revolte gehört nicht zu meiner Lernbiografie. Ich war gerne Schülerin. Ich hab es geliebt.
Auch gegenüber Ihren Eltern haben Sie nie revoltiert?
Es wäre überheblich zu sagen, alles sei immer harmonisch verlaufen, natürlich gab es Meinungsverschiedenheiten, zum Beispiel in der Pubertät, aber nie ein richtiges Drama. Ich wurde sehr schnell erwachsen.
Meine Eltern waren beide Schneider, Damen- und Herrenschneider, sie kamen also aus dem Handwerklichen, aber meine Eltern sind (oder waren) die einzigen Nichtakademiker in der ganzen Familie. Es war für meine Eltern nie eine Frage, ob wir studieren würden oder nicht. Einer meiner Brüder ist Mediziner und arbeitet als Chirurg in Paris, einer ist Elektroingenieur ... Wir hatten also nicht die Wahl, zu studieren oder nicht, die Frage war nur, was wir studieren würden.
Hätte es denn einen anderen Weg gegeben?
Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich wollte schon als kleines Kind Lehrerin werden, etwas anderes habe ich mir nie überlegt. Mein jüngster Bruder wollte immer Arzt werden, schon mit fünf hat er sich ein Arztköfferchen für Kinder gewünscht, das war sein liebstes Spielzeug, auch das Stethoskop, für ihn war immer klar, er wird Arzt – und er ist es geworden. Mein anderer Bruder hat erst Architektur studiert und dann gemerkt, dass das nicht seine Welt war, dann ist er Elektroingenieur geworden, heute ist er in der Softwarebranche tätig. Für mich, wie gesagt, war immer klar, dass ich Lehrerin werden würde.
Meine Eltern waren beide zwar sehr kreativ, meine Mutter hat so etwas wie die Freitags-Taschen schon vor dreissig Jahren erfunden ... Trotzdem hat mich ihr Beruf nie interessiert, ich war froh, wenn meine Mutter für mich etwas Schönes nähte, aber das war kein Beruf für mich. Es war keine Diskussion, in die Fussstapfen der Eltern zu treten.
So hatten Sie also zunächst gar keinen besonderen Bezug zur Berufsbildung?
Nein, diesen Bezug musste ich mir hier erst erarbeiten. Ich hatte eine Zeitlang eine Leitungsfunktion an der damaligen ZHW, heute ZHAW – ich habe dort die Abteilung «Deutsch als Fremdsprache» geleitet. Da rümpfte meine Familie schon ein wenig die Nase, weil es ja nur eine Fachhochschule war und nicht eine Universität, und wenn ich jetzt erzähle, ich sei Berufsschullehrerin, sagt man mir auch: Wärst du in Istanbul geblieben, wärst du heute Professorin. Der Status spielt eine grosse Rolle, nicht nur in meiner Familie. Die Türkei ist eine Klassengesellschaft, zwischen den Klassen gibt es kaum Durchmischung. Es hat mich damals, als ich neu war in der Schweiz, sehr befremdet, dass es im Freundeskreis meines Mannes, der ja Schweizer ist, auch Schreiner gab. In der Türkei gehören Handwerker zu einer anderen Schicht, ich musste da komplett umdenken.
Ist das nicht auch in der Schweiz ein Problem, dass die Berufsbildung nicht das Ansehen geniesst, das sie verdient, obwohl so viele Leute diesen Weg ins Erwachsenenleben gehen? Über Bildung wird ja bei uns viel gesprochen und geschrieben, aber nicht so sehr über diesen Bereich. Und entsprechend werden vielleicht auch die Berufsschullehrer nicht so richtig respektiert.
Ja, wenn man mich hier nach meinem Beruf fragt, und ich sage, ich bin Lehrerin an der Schule für Gestaltung, dann denken die Leute erst an die Hochschule für Gestaltung, weil sie mich eher mit dem Hochschulbereich in Zusammenhang bringen. Dann muss ich korrigieren: nein, die Berufsschule für Gestaltung, und das ist mir ein paar Mal passiert, seither präzisiere ich von vornherein.
Hat Ihr Beruf die Reputation, die er verdient? Ist die Anerkennung da?
Die gesellschaftliche Akzeptanz ist das eine. Das geringere Ansehen sieht man ja auch bei den Löhnen. Es gibt eine Diskrepanz bei den Löhnen von Gymnasiallehrern und Berufsschullehrern, die ich nicht nachvollziehen kann. Was man jedoch über den eigenen Beruf erzählt, ist das andere. Es hängt auch damit zusammen, was man selbst ausstrahlt. Wenn man seinem Gegenüber den eigenen Beruf so vermittelt, dass er daraus schliessen muss, es ist ein Beruf, der nicht sehr viel Anerkennung verdient, wäre das fatal.
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