Es ist nicht einfach, sich auf diesem Terrain zu orientieren. Es ist zu vielfältig, es möchte alles abdecken. Das ist allerdings illusorisch. Zur Arbeit am nächsten Rahmenlehrplan sollten unbedingt mehr Leute aus der Praxis beigezogen werden, nicht bloss Bildungspolitiker.
Die Gruppe der ABU-Lehrerinnen und -lehrer ist ja in einem gewissen Sinne multikulturell, im Hinblick auf die Werdegänge, da gibt es Juristen, Biologen, Germanisten, Mathematiker, Ethnologen, Anglisten usw. Diese Vielfalt ist sehr inspirierend. Alle haben sie ein Studium abgeschlossen, aber das heisst ja nun nicht, dass man auch unterrichten kann. Diese Leichtfertigkeit verstehe ich nicht so richtig. Dass man jemanden, der zwar ein Studium abgeschlossen hat, aber noch nie vor einer Klasse stand, zutraut, in einer Berufsfachschule zu unterrichten. Dort zu unterrichten, ist etwas vom Anspruchsvollsten, das kann ich vor dem Hintergrund meiner langjährigen Erfahrung sagen. Es geht ja nicht allein ums Fachliche – Fachwissen trägt einen im ABU nicht sehr weit. Man kann sich darauf nicht stützen, oder nur zum Teil. Methodik und Didaktik sind entscheidend, mit der Fachdidaktik steht und fällt es.
Das Fachwissen selbst, das kann man sich aneignen. Ich musste mir das alles auch erarbeiten, ich hatte doch keine Ahnung, wie das schweizerische politische System funktioniert, als ich in die Schweiz kam. In der Türkei kennt man die Schweiz als Land der Uhren und des Käses. Dass wir auch dasselbe Zivilgesetzbuch haben, wissen die wenigsten Türken.
Hatten Sie eigentlich einen Bezug zum dualen schweizerischen System der Berufsbildung, dieser Kombination von Schulischem und Praktischem? Zu den Betrieben?
Ich habe im ersten Jahr als ABU-Lehrerin viele Betriebe besucht, und das würde ich jeder Lehrperson empfehlen, auch den älteren. Die Betriebe verändern sich, die Technologien verändern sich, Arbeitsabläufe verändern sich, neue Maschinen werden verwendet. Wer also seit zwanzig, dreissig Jahren ABU unterrichtet, sollte unbedingt mal wieder Betriebe besuchen.
Auch die Lernenden bei der Arbeit zu sehen, hat mein Blickfeld erweitert. Sie sind dort erwachsene Personen, in der Schule verhalten sie sich weiterhin wie Schüler mit sechzehn.
Ist das nicht ein eigenartiger Graben? Man erwartet von den jungen Leuten bei der Arbeit sehr viel Selbstständigkeit, dass sie sich im Betrieb wie Erwachsene verhalten, und in der Schule werden sie in einer Art Unmündigkeit gehalten?
Die Diskrepanz ist riesig. Deswegen fühlen sie sich ja auch in den Betrieben viel wohler, weil sie dort in der Rollenfindung in dieser neuen Lebensphase mehr Spielraum haben. Das ist für sie die Perspektive, auf die sie sich hinbewegen. In der Schule setzen wir sie zurück auf die Schulbank.
Im Betrieb sind sie selbstständig, sie produzieren etwas, sie übernehmen Verantwortung. Sie sind Teil eines Ganzen, mit dem sie sich schnell identifizieren. Das «Wir», dieses «Unser Betrieb», die erste Person Plural, das kommt in ihrer Sprache sehr schnell. Und aus dieser Erwachsenenwelt müssen sie wieder ein, zwei Tage in die Schule zurück. Diese Diskrepanz führt oft auch zu paradoxen Situationen. Wir holen sie immer wieder heraus aus dem Erwachsenenleben.
Aber es kommt auch darauf an, wie man unterrichtet, aufs Unterrichtskonzept, aufs Unterrichtsverständnis. Handlungsorientierung und Unselbstständigkeit, das wäre ja ein innerer Widerspruch. Bei handlungsorientiertem Unterricht geht es genau darum, dass die Lernenden selbstständig handeln. Durch das eigene Lehrerverhalten kann man vermeiden, dass die Schüler in Unselbstständigkeit gehalten werden. Wir sollen sie ja zu selbstständigen Menschen erziehen ...
Wie machen Sie das?
Ich mache es nicht immer ... Aber der handlungsorientierte Ansatz bringt das, glaube ich, «automatisch» mit sich. Wenn sich die Lernenden Inhalte selbst erarbeiten, sind sie selbst aktiv, sie müssen selbst aktiv werden. Bei Projektarbeiten müssen sie sich den Stoff selbst aneignen. Natürlich leiste ich pädagogische Hilfestellung, ich führe sie dorthin. Aber ich präsentiere ihnen nicht fertige Mahlzeiten.
Haben Sie von Anfang an so unterrichtet?
Nein, das musste ich erst lernen. Ich musste es ausprobieren, das ABU-Studium an der Uni Zürich hat mir darin sehr geholfen und hat mir die Augen geöffnet.
Als ich ABU zu unterrichten begann, habe ich vielleicht allzu sehr auf die Eigenständigkeit der Lernenden gebaut. Wenn ich Arbeitsanweisungen gab, ging ich zu Beginn davon aus, dass sie machen würden, was ich verlangte.
Ich habe zu wenig Kontrollinstrumente eingebaut, weil ich von diesem Selbstverständnis ausging. Da stand mir vielleicht auch meine Arbeitserfahrung im Tertiärbereich im Weg. Wenn ich Studierenden einen Projektauftrag gab, war es selbstverständlich, dass sie zum vereinbarten Zeitpunkt nach den Vorgaben liefern würden. An der Uni in Istanbul hat das funktioniert. Hier, auf der Berufsschulstufe, hat es nicht mehr funktioniert. Dort war ich als Dozentin per se eine Autorität, nicht nur weil ich autoritär auftrat. Dort wird das akzeptiert, es wird sogar erwartet und gehört zum Berufsbild. Hier bin ich nicht autoritär, und es braucht Zeit, bis einem Autorität zugestanden wird, ohne dass man autoritär wäre. Die Lehrperson muss ihre Kompetenz im Fachgebiet beweisen.
Ich bin also allzu sehr von meiner eigenen Lernbiografie ausgegangen. Ich habe das Verantwortungsbewusstsein zu hoch gewichtet. Das war wohl der grösste Fehler. Diese eher zurückhaltende Art der Begleitung war in der Berufsschule nicht adäquat, ich habe zu viel erwartet, wenigstens was die Einstellung der Schüler zum Lernen anging. Ich habe sie damit überfordert. Das habe ich sehr schnell realisiert.
Woran haben Sie das gemerkt?
Die Schüler reagieren ... sie lassen die Lehrperson sehr deutlich und schnell spüren, was sie nicht wollen, da muss man gar nicht lange suchen. Dieser mangelnde Respekt, diese Protesthaltung, das kommt sehr schnell zum Ausdruck. Das ist es auch, was einen wach hält ...
Dass zum Beispiel Beurteilungskritieren hier so transparent sein müssen, das musste ich erst lernen. Beurteilungskritierien hat ein Student in Istanbul nie hinterfragt, weil ich die Autorität war, und es wäre eine Missachtung der Autorität, wenn man hinterfragen würde. Ich musste mein ganzes Lehrerverständnis umkrempeln, als ich hier in der Berufsschule anfing. Die kulturellen Differenzen sind spürbar ...
Ich habe kürzlich erst meinen Vater verloren. Und zum ersten Mal fiel mir beim Totengebet in der Moschee auf, dass in der Türkei die Seelen der toten Lehrer erwähnt werden. Man wünscht ihnen, dass sie im Paradies ihre Ruhe finden. Das ist ein Teil der Litanei des Hodschas. Man betet für den Verstorbenen, für Atatürk, und dann kommen die Lehrer, kein anderer Beruf, nur die Lehrer. Das wurde mir beim Begräbnis meines Vaters zum ersten Mal bewusst.
Atatürk hat grossen Wert darauf gelegt, dass der Lehrerberuf diesen Status bekam. Es gibt in der Türkei ja sogar einen Tag der Lehrer, am 24. November. Aber schon vor der Säkularisierung der Türkei gab es die Hodschas, die grosse Achtung genossen, sie waren unumschränkte Autoritäten. Auch autoritäres Verhalten wird in der Türkei geduldet, das gehört dazu, der Respekt gegenüber der Autorität.
In einer solchen Kultur war ich also Dozentin gewesen.
Dass mich meine Schüler hier mit Namen ansprechen, dass ich für sie einfach Frau Dal bin, daran musste ich mich erst gewöhnen. In der Türkei wird ein Lehrer nicht mit Namen angesprochen, sondern mit «Hodscham» oder «Öğretmenim», «mein Lehrer». Ich musste also umdenken.
Klar ist jedenfalls, dass ich zum Beispiel mit türkischen Schülern überhaupt keine Probleme habe. Sie haben Respekt, wenn ich «als türkische Lehrerin» vor ihnen stehe, vermutlich weil sie diese Rollenzuschreibung von ihrer Kultur auf mich übertragen.
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