Was erzählen Sie denn in Istanbul darüber?
Die Berufsschule hat in der Türkei kaum Ansehen. Meine Freunde fragen mich, was denn das sei, «Allgemeinbildung». Und dann fange ich an vom Rahmenlehrplan, von Aspekten usw. zu erzählen, und sehr bald merken sie, wie anspruchsvoll das eigentlich ist. Wenn ich zu Hause in Istanbul erzähle, was ich mache, ernte ich am Ende auch deshalb Anerkennung, weil ich die Komplexität meiner Arbeit vermitteln kann. Es hat viel mit der eigenen Einstellung zum Beruf und mit der Kommunikation darüber zu tun.
Das erzählen Sie also, was ABU ist ... Nicht zum Beispiel, wie anspruchsvoll es ist, mit jungen Leuten zu arbeiten.
Ja, ich erzähle von ABU, von meinem Auftrag, natürlich kommt dann auch sehr schnell, dass das ja sehr glückliche Schüler sein müssen, dass sie in einem solchen Fach unterrichtet werden. Und dann sind wir sehr schnell bei den Schülern, auch dass sie das nicht so sehr schätzen.
Ist das so?
Manchmal ... Aber wenn sie das Gefühl haben, sie lernen etwas, sie erleben einen Lernzuwachs, dann ist genau das Gegenteil der Fall. Vor zwei Tagen sagte mir eine Schülerin, sie habe bei mir zum Vertragsrecht viel gelernt, was sie jetzt brauchen könne, sie ist Musikerin und musste mit ihrem Label einen Vertrag abschliessen ... Das sind Erfolgserlebnisse für einen Lehrer.
Die Schüler wollen ja lernen. Ich glaube, es gibt keine jungen Menschen, die nicht lernen wollen. Alle wollen lernen. Und wenn sie das Gefühl haben, sie können ihren Horizont erweitern, kommen sie gern zum Unterricht. Ich sage ihnen am Anfang: Was Sie hier lernen, das werden sie vierzig, fünfzig, sechzig Jahre lang brauchen. Die Hälfte der Klasse ist vielleicht in zehn Jahren nicht mehr im gelernten Beruf tätig. Aber was sie im ABU lernen, wird ihnen jahrzehntelang gute Dienste leisten.
Im ABU haben wir die Chance, uns an aktuellem Geschehen zu orientieren. Wenn heute etwas passiert, können wir das morgen in den Unterricht einbauen. Dieser Aktualitätsbezug, das macht den ABU sehr lebendig. Wenn man das schafft, wenn man sie in ihrem Denken, ihrem Sehen, ihrem Erkennen schulen kann, wenn man ihnen die Augen öffnen kann, wenn man zeigen kann, wie sie hinter die Fassaden blicken können, dann kommen sie sehr gerne in den Unterricht.
In meinen Augen sind sie sehr lernwillig, man muss nur wissen, wie man das lebendig hält.
Das macht es ja alles noch einmal anspruchsvoller. ... Es reicht nicht, sich in Vertragsrecht kundig zu machen. Sie selbst müssen sich ja mit der Aktualität beschäftigen, und Sie müssen wissen, womit sie, Ihre Schüler, sich beschäftigen.
Sie sagten einmal in einem Interview, Sie hätten bis vor Kurzem keinen Fernseher gehabt ... Schauen Sie jetzt manchmal fern, schauen Sie Jugendsendungen, zum Beispiel Serien?
Nein, selten, ich kenne mich da schlecht aus. Ich habe den Fernseher vor allem gekauft, um selbst Sendungen aufnehmen zu können, die ich dann im Unterricht verwenden kann. Jugendsendungen schaue ich nicht ...
Aber Sie wissen, was Ihre Schüler im TV sehen?
Sie schauen gar nicht so viel fern. Sie sind mehr auf Facebook ...
Sind Sie da auch?
Nein. Ich werde auch nie auf Facebook sein. Aber klar, sie fragen mich ... Sie stellen mich regelrecht zur Rede, weshalb ich nicht auf Facebook sei ... Sie laden mich ein ...
Ich erkläre ihnen, weshalb ich das nicht möchte, und es ist auch gut so. Ich muss nicht so sein wie sie, und wenn ich so wäre, würden sie das gar nicht schätzen. Das ist auch mein Anspruch, ich bin anders.
Nachtrag
Vier Jahre sind vergangen seit dem Interview.
Was hat sich verändert in dieser Zeit? Nun, ich habe mein ABU-Studium erfolgreich abgeschlossen, unterrichte weiterhin an der Berufsschule für Gestaltung, mittlerweile in einer unbefristeten, sogenannten «mbA»-Anstellung («mit besonderen Aufgaben»). Meine «besondere Aufgabe» an der Schule ist dabei die Deutschförderung. Heute arbeite ich ganz ohne Lehrmittel, bereite Dossiers oder Arbeitsmaterialien selber vor, und BYOD (Bring Your Own Device) ist an der Schule etabliert, das heisst, die Lernenden bringen ihre eigenen Notebooks oder Laptops mit, und ihre Smartphones gehören ebenfalls zu den Arbeitsinstrumenten, die sie im Unterricht einsetzen. Computerräume mit kosten- und personalintensiver Wartung werden bald der Vergangenheit angehören. Lernende sind heute mobil und Lernen nicht mehr zwingend orts- oder raumgebunden.
Dass wir auch in der Berufsbildung in einer sich rasant verändernden Zeit leben, macht sich an einigen meiner Aussagen im Interview gut bemerkbar: Ich werde nie auf Facebook sein, antworte ich an einer Stelle. Heute würde ich es nicht so strikt formulieren, obwohl ich weiterhin nicht auf Facebook bin – wobei nicht auf Facebook zu sein, heutzutage schon fast verdächtig ist. Meine Haltung bezüglich sozialer Netzwerke ist inzwischen weniger kategorisch ablehnend; diese Netzwerke lassen sich für das ortsungebundene Lernen und Austauschen nutzen. Lernende oder ehemalige Schüler schicken mir heute zum Beispiel Einladungen für Linkedin, die ich annehme, da ich nun auch einen Linkedin-Account habe. An einer anderen Stelle spreche ich vom handlungsorientierten Unterricht, wo doch heute fast nur noch der kompetenzorientierte Unterricht salonfähig zu sein scheint, obwohl beide Unterrichtsformen sich überhaupt nicht ausschliessen, abgesehen vom selbstorganisierten Lernen, das momentan in aller Munde ist und Akzeptanz geniesst. Die Lehrperson ist dann allenfalls noch Coach.
Würde ich auf alle anderen Fragen meines Interviewpartners heute genauso antworten, habe ich mich gefragt, insbesondere auf Fragen, die die Person des Lehrers betreffen? Die Antwort ist eindeutig ja. Ich führe Klassen eng, und klare Strukturen sind mir weiterhin wichtig. Ich bin immer noch der Überzeugung, dass die Lehrperson einen grossen Einfluss auf den Lernerfolg hat. In einem Abschiedsbrief haben Lernende mir kürzlich geschrieben, sie seien immer gerne in meinen Unterricht gekommen, obwohl ich die strengste Lehrerin war; eine Klasse versicherte mir, sie würden an der Schlussprüfung den besten Notendurchschnitt schaffen und mich «stolz machen», was sie übrigens tatsächlich erreicht haben, eine andere Schülerin schrieb, ich hätte ihnen die Augen geöffnet für die Welt und ich sei ihnen ein Vorbild gewesen.
Solche Rückmeldungen sind mir eine Bestätigung für die Rolle, die ich als Lehrperson in meinen Klassen einnehme. Auch vier Jahre nach dem Gespräch kann ich mit Überzeugung wiederholen, dass dies ein Beruf ist, der erfüllt.
Mine Dal, September 2014
«Immer auf Kontrolle bedacht» – Perfektionismus als Last und Pflicht – Yvonne Steiner
«Immer auf Kontrolle bedacht» – Perfektionismus als Last und Pflicht
Yvonne Steiner, gelernte Fachfrau Gesundheit, Berufsfachschullehrerin an der Höheren Fachschule Pflege des BZSG, St. Gallen, Erwachsenenbildnerin
Es ist ein ziemlich schmaler Grat: Im beruflichen Alltag kann Perfektionismus die Gefahr eines Burn-outs heraufbeschwören. In der praktischen Ausbildung von Pflegefachleuten ist das Streben nach Präzision Pflicht. In diesem Sinne scheint Yvonne Steiner, Berufsfachschullehrerin am St. Galler Berufs- und Weiterbildungszentrum für Gesundheits- und Sozialberufe, den Weg gefunden zu haben, der zu ihrer Persönlichkeit passt.
Schon ein Jahr nach Abschluss ihrer eigenen Lehre übernahm sie die Verantwortung für die angehenden Pflegefachleute auf ihrer Abteilung des St. Galler Kantonsspitals. Mit siebenundzwanzig Jahren begann sie an der höheren Fachschule (HF) für Pflege zu unterrichten, zunächst mit einem kleineren Pensum, inzwischen ist sie aus der Praxis ausgestiegen und unterrichtet im Siebzig-Prozent-Pensum an der HF. Im August 2011, als das Gespräch stattfand, hatte sie gerade ein Master-Studium an der PH St. Gallen abgeschlossen, das sie parallel zu ihrer Ausbildungstätigkeit absolvierte.
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