Markus Maurer, Philipp Gonon (Hrsg.)
Herausforderungen für die Berufsbildung in der Schweiz
Bestandesaufnahme und Perspektiven
ISBN Print: 978-3-03905-923-2
ISBN E-Book: 978-3-03905-994-2
1. Auflage 2013
Alle Rechte vorbehalten
© 2013 hep verlag ag, Bern
www.hep-verlag.ch
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
Inhaltsverzeichnis
Philipp Gonon
Herausforderungen für die Berufsbildung in der Schweiz – eine Einleitung
Markus Maurer
Berufsbildung und Arbeitsmarkt zwischen Tertiarisierung und Fachkräftemangel
Herausforderungen für das duale Modell
Esther Berner
«Verbundpartnerschaft» – Schlagwort oder Erfolgsrezept?
Zur Steuerung der schweizerischen Berufsbildung
Markus Maurer
Finanzierung der Berufsbildung – eine gemeisterte Herausforderung?
Markus Maurer/Silke Pieneck
Die Reform von Berufsbildern als ständige Auseinandersetzung über Form und Inhalt
Daniela Plüss/Claudio Caduff
ABU – Allgemeinbildung für die Berufslernenden?
Philipp Gonon
Berufsmaturität als Reform – Hybris oder Erfolgsstory?
Evi Schmid/Philipp Gonon
Die höhere Berufsbildung unter Profilierungsdruck
Stefanie Stolz
Reibungsverluste an der Schnittstelle Schule – berufliche Grundbildung
Evi Schmid
Berufliche Integration junger Erwachsener: Ziel noch nicht erreicht
Désirée Anja Jäger
Die Europäisierung der Berufsbildung
Chancen und Herausforderungen für die Schweiz
Markus Maurer
Herausforderungen für das schweizerische Berufsbildungssystem – ein Ausblick
Autorinnen und Autoren
Philipp Gonon
Herausforderungen für die Berufsbildung in der Schweiz – eine Einleitung
Die Berufsbildung in der Schweiz geniesst einen guten Ruf. Im Unterschied zum Gymnasium, aber auch zur Volksschule, zu den pädagogischen Hochschulen und Universitäten und selbst zu den Fachhochschulen wird dieser Teil des Bildungssystems in der Öffentlichkeit beinahe ohne jegliche Vorbehalte gelobt. Das war nicht immer so. In den 1970er- und 1980er-Jahren stand die Berufslehre, wie sie damals genannt wurde, in der Kritik. Man sprach von der Misere der betrieblichen Ausbildung; Lehrlinge würden vor allem als billige Arbeitskräfte missbraucht, es würden zu wenig attraktive Lehrstellen angeboten, und in einigen gewerblichen Berufen bestehe gar eine Überproduktion an Lehrlingen und gelernten Berufsleuten, denen es dann an Zukunftsaussichten fehle. Mehr Schule – oder auch berufliche Vollzeitschulen – schien die Alternative zur Lehre beim Meister zu sein. Diese Tonlage ist heute beinahe vollständig verschwunden. Die berufliche Grundbildung und im Besonderen die «duale Berufsbildung» gelten als idealer Weg für Jugendliche, die sich berufs- und praxisnah für den Arbeitsmarkt qualifizieren möchten. Das schweizerische Berufsbildungssystem biete nicht nur eine Vielzahl beruflicher Einstiegs- und Aufstiegsmöglichkeiten, es sei auch verantwortlich für tiefe Jugendarbeitslosigkeit, ja sogar für wirtschaftliche Prosperität und Wettbewerbsfähigkeit. Schliesslich sei die Berufsbildung keineswegs eine Sackgasse für diejenigen, die weitere Bildung anstrebten, sie eröffne im Gegenteil den Zugang zur höheren Bildung. Sie sei daher zu pflegen und auszubauen. – Dies der allgemeine Tenor, der nur durch wenige dissonante Stimmen irritiert wird (vgl. Sarasin, 2012).
Gleichzeitig wird jedoch auch beklagt, dass die Berufsbildung im Lande selbst und jenseits der Landesgrenzen nicht in ihrer Bedeutung gewürdigt, dass sie unter Wert gehandelt werde. In internationalen Vergleichen werde der Berufsbildung der Schweiz zwar eine hohe Leistungsfähigkeit und Wirksamkeit zugesprochen, dennoch sei die Schweiz unter Druck, um im Zuge der Globalisierung ihre Stellung zu behaupten. In einer amerikanischen Studie wird die Schweiz, was die Berufsbildung angeht, zu den besten sechs Ländern gezählt, neben Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Norwegen und Australien (Hoffman, 2011). Viele in der Schweiz würden dieses Ranking noch einmal differenzieren und das eigene Land an die Spitze stellen.
Wie dem auch sei, diejenigen Länder, in denen die duale Berufsbildung dominiert, vor allem auch Deutschland und Österreich, sehen sich in einer widersprüchlichen Ausgangslage: Ihr duales Berufsbildungsmodell wird international nachgefragt, zuweilen gar als «Exportschlager» bezeichnet, umgekehrt werden hinsichtlich Vergleichbarkeit und Anerkennung von Abschlüssen Anpassungen an international vergleichbare Standards verlangt. Die stärkere Einbindung in die internationale Zusammenarbeit erhöhe auch den Druck Richtung Harmonisierung. Damit seien – so ein häufig genanntes Argument – schulische Systeme naturgemäss im Vorteil. Gerade die herausragende Stellung und Einzigartigkeit der schweizerischen Berufsbildung erschwere eine Verstetigung und Ausweitung des schweizerischen Erfolgsmodells.
Spätestens seit der Jahrtausendwende ist also die vormals kritisierte duale Berufsbildung zum international vorzeigbaren Erfolgsmodell und zum wirtschafts- und sozialpolitischen Standortfaktor avanciert. Auch wenn der direkte Zusammenhang von Jugendarbeitslosigkeit und Berufsbildungssystem nicht so einfach nachweisbar ist, hat inzwischen auch die Europäische Union – wie schon seit längerer Zeit Frankreich und England, Länder, die eine ganz andere Tradition beruflicher Bildung aufweisen – die duale Berufsbildung als Potenzial entdeckt. Im Vordergrund steht die Integration von Jugendlichen, die sonst keinen Anschluss im Bildungssystem gefunden hätten, in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt.
Tatsächlich wird seit Längerem auch in der Schweiz primär die duale Berufsbildung ausgebaut (vgl. Gonon, 2012). War früher in den 1980er-Jahren vom «trialen System» die Rede – eigentlich treffender, denn das schweizerische Berufsbildungssystem umfasst neben den beiden Lernorten Betrieb und Schule auch einen «dritten Lernort» (heute meist «überbetriebliche Kurse» oder ÜK genannt) –, so hat sich nun bemerkenswerterweise der Begriff «duale Berufsbildung» durchgesetzt, der für alle Formen beruflicher Ausbildungen verwendet wird, die betriebliche wie auch schulische Anteile aufweisen.
Im Jahre 2010 erschien als Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Bericht «Sechs Jahre neues Berufsbildungsgesetz – Eine Bilanz» (Schweizerischer Bundesrat, 2010), in dem explizit von der Förderung der «dualen Berufsbildung» die Rede ist – wie übrigens bereits im Bericht des Bundesrates anlässlich der Gesetzesrevision im Jahre 2000. In der «Bilanz» werden mehrere Herausforderungen benannt, auf die auch im Folgenden noch eingegangen wird.
Trotz der allseits bescheinigten Erfolge gebe es für die Berufsbildung im Besonderen mit Blick auf die Zukunft einige Problemlagen, die Antworten verlangten, so auch die Meinung anderer Akteure. In einer Expertise zur Zukunft der Bildung in der Schweiz wurde auch die Rolle der Berufsbildung in einer wissensbasierten Gesellschaft thematisiert (Akademien der Wissenschaften Schweiz, 2009). Ein Mitautor bezeichnete an anderer Stelle die duale Berufsbildung in der Wissensgesellschaft als «Auslaufmodell», was heftigen Widerspruch hervorrief. Eine weitere Debatte entfachte die vonseiten der Arbeitsmarktforschung in der letzten Dekade festgestellte starke und überproportionale Zuwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte. Die Feststellung, dass es im Gesundheitsbereich und in der Informatik an Fachkräften mangle, warf u. a. die Frage auf, ob das Bildungssystem zu selektiv und zu wenig chancengerecht sei, aber auch die, ob in der Schweiz zu wenig Akademiker ausgebildet würden. Damit stand zur Diskussion, ob die Schweiz nicht vielleicht ein Zuviel an Berufsbildung gewähre (Meyer, 2009).
Читать дальше