«1968» – global und lokal
I. Ruhe und Unruhe vor dem Sturm
Erfindung der Jugend
Vorgeschichte(n)
Beatniks und Provos
Hochkonjunktur in der Schweiz
Babyboom und Massenkonsum
Soziale Stabilität und politischer Konsens
Jugend- und Popkultur
Nonkonformisten
Avantgarde in Kunst und Kultur
Opposition von links
Erste Aktionen von Studierenden
II. Ein transnationales Ereignis
Anhaltende Proteste in den USA
Ausweitung und Radikalisierung in Westeuropa
«1968» als globale Bewegung
Bewegung an Westschweizer Universitäten
Deutschschweizer Universitäten: ein Blick über die Grenzen
Mehr Reform als Revolte
Proteste auf den Strassen von Zürich und Genf
Ausweitung auf andere Städte
Popkultur, Flower Power und Psychedelika
Wandel und Wirkung der Westschweizer Theaterszene
Untergrundpresse: lokal produziert, global vernetzt
Subkultur und Neue Linke: ein gespanntes Verhältnis
Filmszene – zwischen Politik und Experiment
Politik und Avantgarde in Kunst und Literatur
III. Deutungsmuster, Forderungen, Strategien
Antiimperialismus und Antimilitarismus
Antikapitalismus und Antifaschismus
Demokratisierung und Selbstbestimmung
Vielfalt der Aktionsformen
Sit-ins, Go-ins und Teach-ins
Gegeninformation und Provokation
Versuche zur translokalen Vernetzung
Neue Lebensstile und Lebensformen
IV. Zersplitterung, Rückzug, Fortsetzung
Die Jahre nach 1968
Konflikte und Zersplitterung in der Schweiz
Parteipolitische Aufbauarbeit
Die Spontaneisten
Militanz und Gewalt
Kulturelle Nachbeben
Verhärtung des Klimas an Schulen und Universitäten
Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen
V. Wirkungen und Interpretationen
Was war «1968»?
Helvetische Schwierigkeiten und Besonderheiten
Frage nach Folgen und Wirkungen
Kampf um Erinnerungen und Deutungen
Auswahlbibliografie
«1968» – global und lokal
Im Herbst 1969 verteilen fünf Schüler des Lehrerseminars Hitzkirch im Kanton Luzern anlässlich einer Veranstaltung der Sanitätsrekrutenschule Flugblätter mit kritischen Fragen über Inhalt und Sinn des Armeebetriebs. In der Folge werden sie in der lokalen Presse als «Charakterlumpen» bezeichnet. Der Erziehungsrat des Kantons Luzern beschliesst, dass die Schüler von der Schule zu verweisen seien und zwei Jahre lang nicht als Lehrperson wählbar sein sollen. Vertreter der Jungen Linken Luzern und des Autonomen Forums Beromünster solidarisieren sich in einem weiteren Flugblatt mit den fünf Schülern, woraufhin einige von ihnen ebenfalls auf die Rektorate ihrer Schulen zitiert werden.
Diese kleine Episode gehört nicht zu den einschneidenden Ereignissen, die mit «1968» in der Schweiz in Verbindung gebracht werden. Es sind andere Ereignisse, Momentaufnahmen und Akteure, die sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben haben. Für die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer ist es der sogenannte Globuskrawall im Juni 1968 in Zürich, der paradigmatisch für die 68er-Bewegung steht. In der französischen Schweiz erinnert man sich im Zusammenhang mit dem Jahr 1968 vor allem an die Aktivitäten und Demonstrationen gegen die Journées genevoises de la Défense nationale im Mai 1968. Und im Kanton Tessin gilt die Besetzung im März 1968 der Aula des Lehrerseminars Locarno durch 200 Schülerinnen und Schüler als Schlüsselereignis von «1968».
Wenn die Episode von Hitzkirch dennoch am Anfang des vorliegenden Buchs steht, dann deshalb, weil sich daran aufzeigen lässt, dass sich «1968» in der Schweiz nicht allein auf einige zwar spektakuläre und weitum bekannte, doch insgesamt wenige Ereignisse beschränkt. «1968» war ein viel breiter gefächertes Phänomen, das oftmals durch kleine, örtlich begrenzte Ereignisse von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, sich aber noch viel mehr in alltagskulturellen Erscheinungen, sozialen Umgangsformen oder gar einzig und allein in neuen Klängen aus dem Transistorradio oder der bunteren Mode manifestierte. Um auch methodisch diesen multiperspektivischen Blick zu ermöglichen, verbinden sich in diesem Buch politik- und sozialgeschichtliche Zugangsweisen mit kultur- und alltagsgeschichtlichen Annäherungen.
Bislang ist die Geschichte von «1968» in der Schweiz vor allem als Lokalgeschichte geschrieben worden. Es liegen Studien zur 68er-Bewegung und ihren Mobilisierungen in Zürich, Bern, Basel, Lausanne und Genf vor. Bisweilen werden auch die französische Schweiz, die Deutschschweiz oder das Tessin als Ganzes erfasst, doch gibt es bis heute keine Darstellung zu «1968» aus gesamtschweizerischer Perspektive. Diese Lücke will das vorliegende Buch schliessen. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit und systematische Erfassung sämtlicher Ereignisse und Akteure zu erheben, ermöglicht es der hier angewandte translokale und transregionale Blick, trotz Unterschieden und phasenverschobenen Entwicklungen Parallelitäten und Synchronitäten wie auch gegenseitige Beeinflussungen und Kooperationen darzustellen.
Doch «1968» war auch ein transnationales, ja ein globales Ereignis. Von den USA ausgehend breitet sich in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre weltweit eine Proteststimmung aus, die die Leute auf die Strassen treibt, um gegen die herrschenden Verhältnisse, gegen die Obrigkeiten oder den US-amerikanischen Vietnamkrieg zu demonstrieren. Nicht nur in Mexiko City, Berlin, Tokio, Buenos Aires, Berkeley und Belgrad, auch in Genf, Lausanne und Neuenburg demonstrieren Menschen für Solidarität mit der französischen 68er-Bewegung. Die Bewegungen inspirieren und beeinflussen sich gegenseitig, wobei die Medien, insbesondere das Fernsehen, eine wichtige Rolle spielen. Neue Protestformen wie Sit-ins, Go-ins oder Teach-ins werden weltweit erprobt, und die Protestierenden sind überall zum Teil massiven Repressionen von Seiten staatlicher Behörden ausgesetzt. Wie dieses Buch zeigt, lässt sich «1968» demnach auch für die Schweiz nicht allein aus dem lokalen, regionalen oder nationalen Kontext erklären, sondern muss in den grösseren Zusammenhang eines globalen «1968» eingebettet werden. Diese Sichtweise erlaubt es, «1968» in der Schweiz als Teil transnational vermittelter Prozesse zu verstehen und hiesige Ereignisse und Handlungen mit globalgeschichtlichen Interpretationen zu deuten.
Schliesslich nimmt das Buch eine zeitliche Perspektive ein, die sich nicht auf das Jahr 1968 beschränkt, sondern in der Tradition der angelsächsischen «sixties» und der frankofonen «années 68» steht. Aus diesem Blickwinkel stellen das Jahr 1968 und die folgenden zwei, drei Jahre zwar einen Höhepunkt an Mobilisierungen und Aktivitäten dar, allerdings ist diese eruptive Phase im Sinn der «longue durée» Teil von langfristigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen der Nachkriegsschweiz wie auch der westlichen Industriegesellschaften insgesamt zu sehen. Es geht sozusagen darum, «1968» mit Hilfe des Blicks auf die langen «1968er-Jahre» zu erklären. Denn auch die Akteurinnen und Akteure selber haben eine Vor- und eine Nachgeschichte und machen einen Wandel durch, der sich nicht nur in ihren Einstellungen und Handlungen, sondern auch in ihren Ideen und Referenzsystemen zeigt.
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