Virginia Woolf - Die Jahre

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Woolfs vorletzter Roman, mit dem sie große Erfolge feierte: Dieser drei Generationen umspannende Familienroman, der sich von 1880 bis in die 1930er Jahre erstreckt, erzählt das Leben der Londoner Offiziersfamilie Pargiter. Hierbei geht es um die Schicksale der Großeltern, Eltern und Kinder, die über die Jahre begleitet werden. Die auf den ersten Blick für Woolf ungewöhnlich konventionelle Erzählweise wird durch wiederkehrende, das Gestern und das Heute verbindende Augenblicke aufgebrochen.-

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Virginia Woolf

Die Jahre

Übersetzt Herberth und Marlys Herlitschka

Saga

Die Jahre Übersetzt Herberth und Marlys Herlitschka Original The Years Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1937, 2020 Virginia Woolf und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726643015

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

1880

Es war ein launischer Frühling. Unaufhörlich wechselnd, sandte das Wetter Wolken von Graublau und Violett über die Erde. Die Landwirte machten besorgte Gesichter, wenn sie ihre Felder ansahen; die Leute in London öffneten ihre Schirme, sahen zum Himmel auf und schlossen sie wieder. Doch im April war solches Wetter zu erwarten. Hunderte von Verkäufern und Verkäuferinnen bei Whiteley und in den Army & Navy Stores erlaubten sich diese Bemerkung, wenn sie adrett verschnürte Päckchen Damen in üppig berüschten Kleidern über den Ladentisch reichten. Endlose Züge von Kauflustigen im Westend, von Geschäftsleuten in der City fluteten auf den Gehsteigen hin und her, wie unaufhörlich wandernde Karawanen – so schien es denen, die aus irgendeinem Grund einen Augenblick stehnblieben, etwa, um einen Brief einzuwerfen, oder an einem Klubfenster in Piccadilly. Der Strom von Landauern, Viktorias und Hansoms versiegte nie; denn die Season nahm ihren Anfang. In ruhigeren Straßen verzapften Musikanten ihr dünnes, meist schwermütiges Gedudel, das hier in den Bäumen des Hyde Park, dort des St. James’s Park im Gezwitscher der Spatzen und den jähen Ausbrüchen der verliebten aber oft pausierenden Drossel sein Echo oder seine Parodie fand. In den Wipfeln der Gartenanlagen auf den Squares trippelten die Tauben hin und her, ließen ein Zweiglein oder zwei fallen und gurrten immer wieder ihr stets unterbrochenes Schlummerlied. Durch die Parktore beim Marble Arch und beim Wellingtonpalais drängten sich nachmittags Damen in bunten Kleidern mit dem neumodischen Cul-de-Paris und Herren im Gehrock, eine Nelke im Knopfloch, den Spazierstock in der Hand. Hier kam die Gemahlin des Prinzen von Wales, und wo sie vorbeifuhr, wurden Hüte gelüpft. In den Souterrains der langen Avenuen in den Wohnvierteln trafen Stubenmädchen in Häubchen und Schürze die Vorbereitungen zum Tee. Umwegig aus der Tiefe hinaufgetragen, wurde die silberne Teekanne auf den Tisch gestellt, und mit Händen, welche die offenen Wunden der Elendsquartiere von Bermondsey und Hoxton gestillt hatten, taten junge Mädchen und alte Jungfern sorgfältig abgemessene ein, zwei, drei, vier Löffelvoll Tee hinein. Sobald die Sonne unterging, öffneten sich tausende kleine Gasflammen, den Augen von Pfauenfedern gleichend, in ihren Glaskäfigen; dennoch blieben lange Strecken auf den Gehsteigen dunkel. Das vermischte Licht der Laternen und der untergehenden Sonne spiegelte sich in dem stillen Wasser des »Rundteichs« und der »Serpentine«. Außer Haus Speisende, die in Hansoms über die Brücke trabten, betrachteten sekundenlang den reizenden Ausblick. Allmählich stieg der Mond hoch, und seine blanke Münze, obgleich bisweilen von Wolkenwischen verdeckt, leuchtete heiter oder streng oder vielleicht völlig gleichgültig. Langsam kreisend, wiedie Strahlen eines Scheinwerfers, glitten die Tage, die Wochen, die Jahre, eins nach dem andern, über den Himmel.

Oberst Abel Pargiter saß nach dem Lunch in seinem Klub und plauderte. Da seine Gefährten in den Lederfauteuils Männer seines Schlags waren, Männer, die Offiziere oder Staatsbeamte gewesen und nun im Ruhestand waren, ließen sie mit alten Witzen und Anekdoten erst ihre Vergangenheit in Indien, Afrika, Ägypten wieder aufleben und kamen dann in ganz natürlichem Übergang auf die Gegenwart. Es handelte sich um irgendeine Ernennung, um eine mögliche Ernennung.

Plötzlich neigte sich der jüngste und flotteste der drei vor. Gestern beim Lunch mit ... Hier senkte der Sprechende die Stimme. Die andern beugten sich zu ihm; eine kurze Handbewegung Oberst Pargiters sandte den Diener weg, welcher die Kaffeetassen abräumte. Die drei schütter behaarten und angegrauten Köpfe blieben einige Minuten nahe beieinander. Dann warf sich Oberst Abel im Lehnstuhl zurück. Der sonderbare Schimmer, der in die Augen aller drei gekommen war, als Major Elkin seine Geschichte begann, war aus Oberst Pargiters Gesicht völlig verschwunden. Er saß und starrte vor sich hin, mit seinen hellblauen Augen, die ein wenig zusammengekniffen waren, als sähen sie noch immer in den Glast des Ostens, und an den Winkeln ein wenig umfältelt, als wäre noch immer Staub in ihnen. Ein Gedanke war ihm gekommen, der, was die andern sagten, für ihn uninteressant machte, sogar unangenehm. Er erhob sich und blickte durchs Fenster auf Piccadilly. Die Zigarre in der Hand, sah er hinab auf die Oberdecke der Omnibusse, auf die Hansoms, die Visavis, die Lieferwagen und Landauer. Ihn ging das alles nichts an, schien seine Haltung zu sagen; mit dieser Sache hatte er nichts mehr zu tun. Sein rotwangiges, männlich hübsches Gesicht verdüsterte sich, als er so dort stand und hinaussah. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Das mußte er sie fragen. Er wandte sich um; aber seine Freunde saßen nicht mehr da. Die kleine Gruppe hatte sich aufgelöst. Elkin eilte schon durch die Tür; Brand sprach dort drüben mit einem andern Herrn. Oberst Pargiter verschluckte, was er vielleicht gesagt hätte, und wandte sich wieder dem Fenster zu, aus dem man auf Piccadilly sah. JederMensch auf der menschenerfüllten Straße schien irgendein Ziel zu haben. Alle eilten, um irgendeine Verabredung einzuhalten. Sogar die Damen in den Visavis und Broughams, die da vorbeitrabten, hatten irgend etwas vor. Alle Welt kam nach London zurück, richtete sich auf die Season ein. Für ihn aber gäbe es keine Season; für ihn gab es nichts zu tun. Seine Frau lag im Sterben; doch sie starb nicht. Heute ging’s ihr besser; morgen ginge es ihr wieder schlechter; eine zweite Pflegerin war aufgenommen; und so ging es fort. Er ergriff eine Zeitung und blätterte sie durch. Er besah ein Bild der Westseite des Kölner Doms. Dann warf er die Zeitung unter die andern zurück. Früher oder später – das war sein Euphemismus für die Zeit, die nach dem Tod seiner Frau käme, – würde er von London wegziehn, dachte er, und auf dem Land leben. Aber da war das Haus; da waren die Kinder; und da war auch ... Seine Miene veränderte sich; sie wurde weniger unzufrieden; aber auch ein wenig verstohlen und unruhig.

Irgendwohin konnte er schließlich doch gehn. Während sie hier schwatzten, hatte er die ganze Zeit diesen Hintergedanken gehabt. Als er sich herumwandte und sah, daß die andern nicht mehr da waren, war das der Balsam gewesen, den er auf seine Wunde tat. Er wollte Mira besuchen gehn; Mira wenigstens würde sich freuen, ihn zu sehn. Und so wandte er sich, als er den Klub verließ, nicht nach Osten, wohin die beschäftigten Männer gingen, und auch nicht nach Westen, wo, in der Abercorn Terrace, sein Haus lag, sondern ging die festen Wege durch den Green Park entlang gegen Westminster. Das Gras war sehr grün; die Blätter begannen zu sprießen; kleine grüne Klauen, wie Vogelkrallen, kamen aus den Zweigen hervor; alles hatte etwas Funkelndes, Neubelebtes. Die Luft roch rein und scharf. Oberst Pargiter aber sah weder das Gras noch die Bäume. In seinem bis oben zugeknöpften Mantel marschierte er durch den Park und blickte geradeaus vor sich hin. Doch als er nach Westminster kam, blieb er stehn. Diesen Teil der Sache mochte er gar nicht. Jedesmal, wenn er sich der kleinen Gasse näherte, die am Fuß der gewaltigen Steinmasse der Abtei lag, dieser Gasse schäbiger kleiner Häuser mit gelblichen Vorhängen und Zu-Vermieten-Karten in den Fenstern, der Gasse, wo stets der Mann mit dem heißen Gebäck seine Glocke zu läuten schien, wo Kinder kreischten und über die weißen Kreidezeichen auf dem Gehsteig einund aushüpften, hielt er inne, blickte nach rechts, blickte nach links und ging dann sehr rasch auf Nummer dreißig zu und zog die Glocke. Er starrte geradeaus vor sich auf die Tür, während er, den Kopf etwas gesenkt, wartete. Er wollte nicht gesehen werden, wie er hier auf diesen Stufen stand. Er wartete nicht gern auf Einlaß. Er mochte es nicht, wenn ihm Mrs. Sims öffnete. Immer roch es in diesem Haus; immer hingen Wäschestücke an einer Leine im Hintergarten. Er ging die Treppe hinauf, verdrossen und schwerfällig, und betrat das Wohnzimmer.

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