Das Lernen, das Aushandeln, die Kontroverse (Da bin ich anderer Meinung …) und der dialogische Austausch sind beim Kooperativen Lernen wesentlich. Die Lernsituation muss Möglichkeiten zu vielfältiger Interaktion bieten. Das Ausmaß an Interaktivität ist hierbei nicht einfach an der Häufigkeit der Interaktionssequenzen zu messen, sondern der Beitrag der einen sollte auch einen Einfluss auf die folgenden Beiträge der anderen auslösen. Das, was es zu tun gibt, muss ein Miteinander und ein Voneinanderlernen durch gegenseitiges Verhandeln nötig machen. Die Aushandlungsprozesse über die Art und Weise des Miteinanders im Sinne einer bestimmten Aufgabe wie Wie wollen wir vorgehen? Lasst uns doch erst einmal unsere Fragen zum Text gegenseitig vorstellen, und dann diskutieren wir die für uns zentralen Probleme! spiegeln dieses Wirkungsanliegen wieder. Die direkte Kommunikation und Interaktion hängt wesentlich von der Aufgabenstellung und deren Formulierung ab. Geeignet sind Aufforderungen wie ‹Vergleicht …›, ‹Beurteilt gemeinsam …›. Durch Austauschen und Aushandeln erreichen Lernende eine höhere kognitive Ebene ( Bloom’sche Taxonomie). Sie bewerten, analysieren oder führen zusammen. Sie verstehen etwas und können es in neue Zusammenhänge übertragen.
Lernende brauchen Zeit, um ihre eigenen Ideen zu formulieren. Sie müssen ihren selbst gefundenen Standpunkt verteidigen, und sie müssen erklären können. Wie aus der Kognitions- und Gedächtnisforschung bekannt, hat dieser Vorgang besonders günstige Effekte für die Erklärenden. Das Vorentlasten (z.B. durch ein vorgelagertes Lehrgespräch oder Illustrationen) ungewöhnlicher Begriffe und Gedankengänge eines neuen Konzeptes sowie das Übertragen von Wörtern, mathematischen Gefügen oder Textstellen in eine Sprache, die den Studierenden vertraut ist, bieten nötige Grundlagen für nachfolgende Erklärungs- und Aushandlungsprozesse.
Eine der einfachsten Taktiken mit der Bezeichnung «Denken – Austauschen – Vorstellen» (Green & Green 2007, S. 130) strukturiert auf simple Art und Weise die Vernetzung von Wissen und fördert die Interaktion und Kommunikation. Wenn die Lerngruppe ihre Perspektiven austauscht, kann jedes Mitglied ein Problem unter mehreren Aspekten kennenlernen. Vergleichen, Erklären und Nachfragen sind Voraussetzungen für Verstehensprozesse, die durch die Interaktion ermöglicht werden. Dadurch, dass sich mehr Betrachtungsweisen und Lösungswege ergeben, kann Wissen langfristig erhalten bleiben. In ihrer Einfachheit kann diese Taktik als eine Art Muster für Kooperative Lernprozesse gelten.
Denken – Austauschen – Vorstellen (think – paire – share)
A Denken
In einer individuellen Phase machen sich die einzelnen Lernenden allein Gedanken zur gestellten Aufgabe (z.B.: Welche Vor- und Nachteile beinhaltet Kooperatives Lernen?) und aktivieren somit ihre Vorerfahrungen und ihr Vorwissen. Die Dozentin, der Dozent gibt dafür genügend Zeit.
In einer anschließenden kooperativen Phase (zu zweit oder in Kleingruppen) werden die Einzelbeiträge ausgetauscht. Alle kommen zu Wort. Der Vergleich von Ergebnissen und die Diskussion abweichender Resultate fördert die Vernetzung von Wissen. Gleichzeitig findet in einfacher Form «Lernen durch Lehren» statt. Die notwendige Diskussion einzelner Zwischenschritte kann zur Erfüllung einer komplexeren Aufgabenstellung beitragen.
In der letzten Phase werden die Erkenntnisse und Lösungen im Plenum präsentiert. Die erneute Aktivierung des Wissens festigt damit das Gelernte.
Dieses überaus einfache Prinzip ist wirksam, weil es Lehrende davor bewahrt, diejenigen aufzurufen, die die Antwort bereits parat haben, bevor die Frage ausformuliert ist. Darüber hinaus werden alle Lernenden aktiviert, nicht nur diejenigen, die sich melden. Die Beteiligung aller am Lerngeschehen steigt. Dadurch, dass Studierende aufgefordert werden, immer wieder mit anderen Studierenden ins Gespräch zu kommen, besteht die Möglichkeit, sich über gedanklichen Austausch zu einem Thema näher kennenzulernen – und wiederum wird Vielfalt und Verschiedenheit erlebbar gemacht.
3.5Gegenseitige positive Abhängigkeit (Interdependenz)
Gegenseitige positive Abhängigkeit besteht immer dann, wenn verschiedene Personen gemeinsame Ziele verfolgen und das Ergebnis jedes Einzelnen vom Handeln der anderen abhängt. Die Dozentin, der Dozent stellt eine so spannende und komplexe Aufgabe, dass eine positive Abhängigkeit in der Gruppe entsteht, weil alle das Ziel erreichen wollen und dabei aufeinander angewiesen sind. Den Lernenden wird klar, dass das Ziel nur erreicht wird, wenn alle ihren Beitrag leisten. Beispielsweise bekommt jedes Gruppenmitglied nur einen Teil des Materials oder der Information, sodass in direkter Interaktion diskutiert und ausgehandelt werden muss, um die Aufgabe zu erfüllen oder das Problem zu lösen. Mit der Strategie STAD oder auch Gruppenralley genannt (Slavin 1993, S. 154) kann die gegenseitige positive Abhängigkeit in der Gruppe unterstützt werden ( Abbildung 3).
Falls eine Gruppe für eine längere Lerneinheit zusammenbleibt, wie beispielsweise in einer Projektwoche, kann das Zusammengehörigkeitsgefühl auch durch Identitätssymbole (Entwerfen eines Logos oder Namensgebung) oder durch Rituale (wie einen Song oder Slogan) unterstützt werden. Wenn die Studierenden mit Kooperativem Lernen noch nicht vertraut sind, ist es ratsam, die Aufgaben stärker zu strukturieren. Mit wachsender Erfahrung können Lehrende ihre Vorgaben vereinfachen und reduzieren und den Lernenden auch mehr Spielraum für Entscheidungen überlassen. Das bedeutet, dass die Studierenden selbst bestimmen, wie sie ihre Teams und ihre Gruppenarbeit organisieren, die Recherche ausführen oder das Ergebnis im Plenum präsentieren. Wenn immer möglich, sollten auch dann die individuellen Beiträge der einzelnen Gruppenmitglieder beurteilt werden, um ungünstige gruppendynamische Prozesse zu vermeiden.
3.6Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit
Jede oder jeder kann drankommen, alle müssen ihren Teil beitragen. Die Leistungen der Gruppenmitglieder sind verschieden. Im Idealfall sind sie daran interessiert, dass die Lernresultate jedes einzelnen Mitglieds maximiert werden, dass das erarbeitete Produkt funktioniert und gefällt. Jedes Gruppenmitglied muss den Prozess und das Ergebnis der Gruppe verantworten. Jedes Gruppenmitglied tut, was seinen Möglichkeiten entspricht. Wenn diese Haltung entsteht, gibt es z.B. kein «Trittbrettfahren». Für die Präsentation einer diskutierten Fragestellung wird ein Gruppenmitglied zufällig ausgewählt. Die sechs Mitglieder nummerieren sich von 1 bis 6. Dann entscheidet der Würfel darüber, wer für alle stellvertretend präsentiert oder Bericht erstattet. Bei größeren Produkten und Lerneinheiten gilt hingegen, dass alle Teammitglieder für die Präsentation verantwortlich sind (Verantwortungsübernahme und gegenseitige positive Abhängigkeit). Durch eine Lernkontrolle am Ende einer kooperativen Lernphase können alle Lernenden zeigen, wie sie die geforderten Lernziele erreicht haben. Und aufgrund der Vergabe von Punkten nach individuellem Leistungszuwachs können individuelle Lernfortschritte Berücksichtigung finden ( Kapitel 4.2).
Zur Unterstützung der Interaktion und der Stärkung des individuellen Verantwortungsgefühls übernehmen die Lernenden explizite Rollen. Die im Folgenden aufgeführten Rollen bedienen die Grundfunktionen Kooperativen Lernens. Es sind durchaus auch andere denkbar, wie z.B. Motivator, Journalistin, Kundschafter (schauen, was andere Gruppen machen, die Ergebnisse abgleichen und die daraus resultierenden Erkenntnisse in das eigene Team zurückbringen). Wichtig ist, dass die Beteiligten ihre Rolle konsequent einhalten und reflektieren. Da die Lernenden je nach Rolle spezifische Handlungen durchführen – Planen, Organisieren, Kontrollieren usw. –, erweitern sie ihr Repertoire an Lern- und Arbeitstechniken ständig. So erarbeiten sie sich nicht nur neues Wissen, sondern auch Lernstrategien, und sie erweitern ihre überfachlichen Kompetenzen wie beispielsweise die Moderationsfähigkeit.
Читать дальше