»Das habe ich doch gern gemacht«, winkte Holmes ab. »Das ist eben mein Beruf.«
»Trotzdem, danke.«
»Ja, vielen Dank«, sagte nun auch Nic. »Ich konnte ihm einfach nicht helfen und Sie haben ihm das Leben gerettet.«
Noch während sie Holmes für Olivers Rettung dankte, verließ Alexander den Untersuchungsraum. Er folgte Holmes Anweisungen und gelangte in den Gang mit den Patientenzimmern. Es gab vier Türen, zwei links, zwei rechts und er griff nach der Türklinke der ersten Tür auf der rechten Seite. Er klopfte und wartete, bis von innen ein »Ja?« ertönte. Alexander drückte die Klinke herunter und die dünne Metalltür schwang von alleine auf.
»Alexander!« Oliver lag in einem Bett mit roten Laken. Sein gesamter Oberkörper war bandagiert, doch Alexander brauchte kein Arzt zu sein, um zu sehen, dass es ihm besser ging. Sein Gesicht hatte wieder eine gesündere Farbe angenommen und er winkte ihm mit dem gesunden Arm zu.
»Ich dachte schon, ihr hättet mich vergessen.«
Alexander setzte sich auf die Bettkante. »Vergessen? Quatsch.« Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Niemals. Du weißt es vielleicht nicht, aber du bist erst seit gestern hier und wir …« Er zögerte. Wie viel konnte er Oliver erzählen? »Wir hatten etwas zu tun. Apolonaria und ihr Mann haben uns ja diesen Auftrag erteilt. Erinnerst du dich?« Unwillkürlich senkte er seine Stimme.
»Die Tochter, die verschwunden ist?«
»Ganz genau.« Es erstaunte Alexander, dass Oliver sich noch daran erinnern konnte, schließlich war er gestern wiederholt ohnmächtig geworden.
»Habt ihr sie gefunden?«
»Nein, nein, so schnell nicht. Heute haben wir uns erstmal die Stadt angeschaut, damit wir uns allein orientieren können. Wenn du hier rauskommst, dann zeigen wir dir alles.« Er musste lachen, als Oliver die Augen begeistert aufriss.
»Und dann kann ich mir alles anschauen?«, sprudelte es aus dem Jungen hervor. »Ich kann dann in die Geschäfte? Und ich kann dann hingehen, wo ich will?«
»Klar kannst du das.« Alexander hoffte, dass Garrett es erlauben würde.
»Und ihr habt noch keine Spur? Keine Idee, wer seine Tochter entführt hat?«
»Na ja … Wir haben eine Leiche gefunden.« Die Wörter wollten nur zögerlich Alexanders Mund verlassen, noch während er sie sagte, zweifelte er daran, dass die Informationen für Olivers Ohren bestimmt waren.
»Nein!« Oliver richtete sich ruckartig im Bett auf. »Von wem? Wer ist es? Wo ist sie?«
»Wir wissen noch nicht, wer sie ist. Vielleicht ist es Jace. Doktor Holmes und Nic versuchen gerade, genau das herauszufinden.«
»Das schaffen sie. Nic kann das.« Oliver biss sich auf die Lippe. »Wie werden sie feststellen, ob es Jace ist?«
»Das weiß ich nicht.« Alexander zuckte mit den Achseln.
»Wir brauchen vermutlich Angaben von Garrett darüber, wie groß sie ist, was sie für besondere Merkmale besitzt, ob sie schon mal Knochenbrüche hatte.«
»Knochenbrüche kann man jetzt noch erkennen?«
»Vermutlich.« Alexander sah in Olivers erwartungsvolles Gesicht. »Ganz ehrlich: Keine Ahnung. Das alles sind Fragen, die du besser Nic oder Doktor Holmes stellen solltest.«
Oliver lachte. »Macht ja nichts. Doktor Holmes habe ich schon ein paar Sachen gefragt. Und er hat mir auch ein paar Instrumente gezeigt, die er für meine Operation benutzt hat. Das war toll. Also, das Zeigen, nicht die Operation. Und er hat mir das da gebracht.« Der Junge strahlte übers ganze Gesicht und deutete auf ein aufrecht stehendes Skelett in der Ecke des Zimmers. Alexander freute sich, dass er sich hier so gut einlebte. »Er hat gesagt, dass das ganz neu ist und ich der Erste bin, der es zu sehen bekommt. Damit kann ich die Knochen lernen, weißt du? Und schau mal, ich glaube, das hatte auch mal einen Knochenbruch.« Lachend deutete Oliver auf das rechte Schienbein des Skeletts.
Alexander betrachtete das Skelett und dann wieder Oliver.
»Also geht es dir gut hier? Doktor Holmes behandelt dich gut?«
»Er kümmert sich um mich, ja. Ohne ihn wäre ich wohl tot, was?«
Alexander nickte ernst. »Und wie findest du ihn? Ist er nett?« Er dachte an die Blicke zwischen Holmes und Nic.
»Schon, ja.« Oliver schien zu überlegen. »Er war nicht so oft hier, deswegen kann ich das nicht so genau sagen, aber ich habe nichts gegen ihn.«
»Gut, gut.« Alexander sah zur Tür. Er musste zu Garrett zurück und ihn über den Leichenfund unterrichten. »Ich muss jetzt leider wieder los.«
»Schade, aber ich versteh das. Viel zu tun. Richtest du Nic Grüße von mir aus?«
»Das mache ich.«
»Und auch, dass sie mir Bücher vorbeibringen soll, wenn ich hierbleiben muss?«
Alexander lachte. »Auch das richte ich ihr aus.«
»Gut.« Olivers Augen fielen immer wieder zu.
»Oliver? Ich gehe dann jetzt. Du solltest dich ausruhen.«
»Aber ich bin gar nicht müde.« Olivers Stimme war nur noch ein Murmeln.
»Schlaf ruhig.« Alexander legte ihm kurz die Hand auf den Kopf, dann zog er sich aus dem Zimmer zurück.
Er beschloss, vorerst noch nicht zu Garrett zurückzukehren, nicht bevor er Ergebnisse hatte, und auch zu Nic würde er nicht gehen, damit würde er nur die Untersuchung stören.
Stattdessen setzte er sich in den Vorraum der Praxis, wo mehrere gepolsterte Stühle standen. Er betrachtete die riesige Uhr, die über dem Empfangstisch stand und hinter der die Zahnräder, die sie antrieben, sichtbar waren. Eine Drehung des kleinen Rads bedeutete eine Minute, die des großen Rads eine Stunde. Nach zwei Umdrehungen des großen Rads stand er auf, um in den Untersuchungsraum zurückzugehen.
Die Obduktion hatte fast zweieinhalb Stunden gedauert, als Nic endlich sichtbar erschöpft die Nadel mit dem grauen Faden zur Seite legte, den sie dazu benutzt hatte, den langen Y-Schnitt, der sich über den Torso des Opfers zog, wieder zu schließen.
Sie hatten viel erfahren, das hatten Doktor Holmes und Nic ihm schon erzählt, zum Beispiel war das Opfer offensichtlich gefoltert worden: Die Schnitte am Bein waren ihr im Abstand mehrerer Tage mit einem stumpfen Gegenstand zugefügt worden, die Haut an den Händen und ihre Kopfhaut waren mit einem sehr scharfen Messer, vielleicht einem Skalpell oder einem Jagdmesser abgezogen worden, der Torso war verbrannt worden und das immer wieder, denn die Verletzungen befanden sich in unterschiedlichen Stadien der Heilung.
»Ist es Jace?« Es war die erste und einzige Frage, die wirklich zählte. Und Alexander wartete voller Angst darauf, wie Holmes und Nic sie beantworten würden.
»Nein.« Holmes schüttelte den Kopf. »Nein, diese Frau hier stammte von den Huacas ab. Sie war nicht weiß.«
»Und Jace muss weiß sein.« Erleichtert schloss Alexander die Augen. Es war nicht Jace. Gleich darauf kam er sich mies vor. Es war nicht Jace, doch trotzdem war sie ein Mensch. Ein Mensch, dessen Leben so gewaltsam geendet hatte.
»Wer tut so etwas?«, flüsterte Nic, und Alexander stellte sich neben sie und betrachtete voller Mitleid die kleine Gestalt auf dem Tisch.
»Ich weiß es leider nicht, aber wir werden es herausfinden. Das haben wir beim letzten Mal doch auch geschafft.«
»Ich glaube leider inzwischen, dass das Glück war. Oder vielleicht eher, dass die Umstände uns ein wenig in die Karten gespielt haben.«
Alexander schüttelte den Kopf. Natürlich stimmte das, was sie sagte, aber das war noch lange kein Grund, bereits jetzt aufzugeben. Zögerlich legte er einen Arm um ihre Schultern und wollte sie an sich ziehen, denn inzwischen war es, als hätte es die seltsame Stimmung vom Morgen nie zwischen ihnen gegeben. Vielleicht waren sie wieder an dem Punkt angelangt, an dem sie gewesen waren, als sie Biota verlassen hatten. Doch Nic entwand sich seinem Griff. Ihre Miene war verschlossen, der Mund fest zusammengepresst. Was hatte er falsch gemacht? Ihr Verhalten war ihm ein Rätsel und er kannte sie zu wenig, um zu wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Statt ihre Ablehnung zu kommentieren, setzte er eine ernste Miene auf und sagte: »Wir haben jetzt die Ergebnisse, wir müssen zu Garrett, er muss uns sagen, ob solche Todesfälle hier öfter vorkommen und wer die Tote sein könnte.«
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