»Nein, ich glaube nicht. Obwohl … Vielleicht ja doch.« Rosa fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Blutige Striemen zogen sich über ihre Beine und Arme.
Sie blickte an sich herunter. »Das wird dem Herrn gar nicht gefallen«, seufzte sie, doch Alexander ging nicht darauf ein.
Er überwand sich dazu, einen erneuten Blick auf das blutige Bündel zu werfen, das im gelblichen Gras zwischen den Büschen lag. Der Leichnam war nackt, die Beine wiesen ein Zickzackmuster aus Schnitten auf, zum Teil so tief, dass der Knochen sichtbar war. Die Haut, die sich über den Brustkorb spannte, erschien narbig, warf Blasen und war feuerrot. An Fingerspitzen und Händen lagen Muskelstränge und Blutgefäße frei. Überall fehlte die Haut oder war verbrannt, sodass man unmöglich sagen konnte, welche Hautfarbe das Opfer einmal gehabt hatte. Das Gesicht war nur noch eine blutige Masse, in der man grob erahnen konnte, wo einmal die Augen, die Nase und der Mund gewesen waren. Außerdem waren die Haare restlos entfernt worden. Mit geballten Fäusten stand Rosa neben ihm und schüttelte immer wieder den Kopf.
»Also? Ist das Jace? Ist das Garretts Tochter?« Was, wenn sie es war? Was würde Garrett dann mit ihm machen?
»Woher soll ich das denn wissen?« Rosas Stimme bebte. »Das sieht ja nicht einmal mehr aus wie ein Mensch! Wie soll ich da sagen können …« Sie brach ab und drehte sich im Kreis, als suchte sie nach demjenigen, der dem Opfer das angetan hatte. Alexander wusste, dass sie recht hatte, das Opfer war unmöglich so zu identifizieren, aber trotzdem war die Frage einen Versuch wert gewesen. »Hat Jace irgendwelche besonderen Merkmale? Muttermale oder vielleicht Tätowierungen?«
Rosa schüttelte vehement den Kopf. »Ich habe nie Muttermale gesehen und eine Tätowierung … nein, das hätte der Herr niemals erlaubt.« Unwillkürlich zog Alexander den Ärmel seines Hemdes über die Tätowierung an seinem Unterarm. Es war nicht einmal so, dass er sich dafür schämte oder etwas Peinliches an den Worten »Forschung, Vertrauen, Einigkeit« war. Für ihn und Nic gab es dieses Vertrauen und diese Einigkeit nicht mehr, eigentlich hatte es sie nie tatsächlich gegeben, und Rosa würde mit der Schrift nichts anfangen können. Bis jetzt hatte sie auch noch niemand darauf angesprochen.
»Wir müssen sie in die Stadt bringen, sie muss zu einem Arzt, irgendwohin, wo Nic sie untersuchen kann.« Alexander flüsterte die Worte mehr zu sich selbst. Sie rüttelten ihn wach, zwangen ihn dazu, endlich etwas zu unternehmen. Vielleicht war es Jace, dann war ihre Suche bereits beendet, bevor sie angefangen hatte. Vielleicht war es aber nicht Jace und sie hatten hier einen anderen Menschen gefunden, den jemand vermisste. Sie brauchten diese Liste der vermissten Personen von Garrett!
Wenn sie diese Leiche untersuchten, würde Nic herausfinden, woran sie gestorben war und wer es war.
»Wie willst du sie in die Stadt bekommen?« Rosa war ein paar Meter zurückgewichen und hielt nun die Äste der Büsche für ihn aus dem Weg.
»Ich werde sie tragen müssen. Wieder zurückzugehen und dann wieder hierherzukommen, um sie zu transportieren, ist zu umständlich, dadurch verlieren wir nur Zeit.«
Er wusste, dass sein Plan richtig war, aber die Leiche war sicherlich schwer und außerdem war sie … blutig. Angewidert verzog er das Gesicht.
Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, schob er einen Arm unter die Kniekehlen und den anderen unter den Nacken des Opfers. Er schnitt eine Grimasse, als sein Hemd feucht wurde, und bemühte sich, die aufsteigende Übelkeit im Griff zu halten. Er atmete flach und bemüht ruhig.
Rosa wandte sich von ihm ab, während er das Opfer hochhob. Als sie sich wieder umwandte, fragte sie: »Soll ich nicht einen der Sklaven rufen? Sie könnten diese … Frau für dich in die Stadt tragen. Am besten zu Holmes, er müsste die richtige Ausstattung für euer Vorhaben besitzen.«
Holmes? War Oliver nicht auch zu diesem Arzt geschickt worden? »Ich mache das schon, kein Problem.« Alexander stöhnte leise, als er sich wieder mit dem Bündel auf seinem Arm aufrichtete. Das Opfer war leichter, als er gedacht hatte, trotzdem würde es ein anstrengender Marsch den ganzen Weg zurück werden. »Lass uns gehen.«


Jace
»Nein!« Jace brüllte und trat, doch sie verfehlte ihn mit jedem Tritt. Ihre Bewegungen hatten nicht mehr genügend Kraft. Sie war schon so lange hier, so lange … Warum suchte ihr Vater sie nicht? Oder ihre Mutter? Sie musste doch noch in Narau sein, warum kam ihr niemand zu Hilfe?
»Na, na, na.« Sein Murmeln klang vergnügt, er genoss es, dass sie sich wehrte. Sollte sie damit aufhören, nur um ihm die Befriedigung nicht zu gönnen? Vielleicht. Doch das würde sie niemals durchhalten. Ihr Vater hatte es ihr immer wieder gepredigt: Eine Garrett gibt nicht auf, niemals. Sie war stark, sie war schlau. Sie würde einen Weg finden. Wenn er sie nur dieses Mal noch am Leben ließ. Noch dieses eine Mal, dann würde sie einen Weg hier raus finden. Ganz allein.
»Dieser Holmes, ist er ein guter Arzt?«
Überrascht sah Rosa ihn an. Sie hatten bereits zwei Drittel der Strecke zurückgelegt, die sie von der Innenstadt Naraus trennte, und die Frage spukte Alexander schon im Kopf herum, seit Rosa seinen Namen erwähnt hatte.
»Ich denke schon, warum nicht? Der Herr schwört auf ihn, alle tun das.«
»Gibt es noch andere Ärzte?«
Rosa fand seine Frage anscheinend merkwürdig, antwortete jedoch nach wenigen Augenblicken: »Ja, mehrere. Aber Holmes ist der beliebteste. Er wird sogar öfter beim Meister und den anderen Caeles zum Essen eingeladen, und das werden nicht viele. Und er ist nett zu mir und den anderen Sklaven. Nicht herablassend, einfach freundlich.« Sie schwieg einen Augenblick. »Er bietet auch nicht nur die Behandlung von Verletzten an, in seinem Laden gibt es zusätzlich noch Tränke, Massagen, Tees, alles, womit man sich besser fühlt.«
Ihre Augen leuchteten bei den Worten auf und Alexander hatte das Gefühl, dass die Sklavin des Öfteren von einem Leben träumte, in dem dieser Luxus ein Teil war.
»Dann bringen wir die Leiche zu ihm«, entschied Alexander. »Wenn er so freundlich und so gut ist, wie du sagst, wird er uns sicher helfen.« Er blieb kurz stehen und verlagerte das Gewicht auf seinen Armen ein wenig, da sie langsam taub wurden. Von hier aus konnte er bereits die Gebäude von Dodge City erkennen. Dort musste auch Holmes’ Praxis liegen.
Was er allerdings nicht bedacht hatte, waren die vielen anderen Einwohner Naraus, die sie natürlich mit der Leiche auf der Straße sahen. So gut es ging, schirmte Rosa ihn ab, und sie passierten rasch die Grenze zwischen Fort Sumner und Dodge City.
»Alexander!«
Ruckartig blieb Alexander stehen und wandte sich um. Mit wehenden Haaren kam Nic auf sie zu gerannt. »Alex, hey!« Sie blieb stehen. »Ich dachte, wir treffen uns vor Pawlows Laden wieder. Da hab ich gewartet.« Dann fiel ihr Blick auf das, was er in den Armen hielt. »Nein.« Ihre Stimme brach. »Ist das …«
»Das weiß ich noch nicht.« Hastig deutete Alexander mit dem Kopf weiter. »Wir bringen sie zu Holmes, er hat die Ausstattung und Rosa meint, er würde uns sicher damit helfen.«
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