»Ja, gute Idee.« In Windeseile hatte Nic die Situation erfasst.
»Wir müssen sie untersuchen.«
»Aber es sollte uns nicht unbedingt jeder sehen.« Beunruhigt sah Alexander sich auf der Straße um.
»Da«, murmelte Nic und deutete auf eine Gruppe von Frauen, die tratschend vor einem der Geschäfte stand. »Da können wir nicht vorbei.«
»Hier entlang«, wisperte Rosa und deutete in die entgegengesetzte Richtung. Hastig wandte Alexander sich ab und folgte der Sklavin über die Straße aus schwarzem Stein bis zu einem Haus, an dessen Wand die Initialen »H. H.« umrahmt von zwei Spritzen zu sehen waren. Ein Schild verkündete » The World’s Fair«.
»Einladend«, kommentierte er unwillkürlich.
Rosa zuckte die Achseln. »Drinnen ist es besser.« Sie hielt die Tür auf, damit Alexander die Leiche ins Innere tragen konnte. Rosa hatte recht: Die Eingangshalle war hell und freundlich, die Wände waren mit poliertem Holz verkleidet und der Boden mit einem roten Teppich ausgelegt.
Nur wenige Sekunden nach ihrem Eintreten erschien ein Mann mit einer schwarzen Melone auf dem Kopf aus der Tür auf der linken Seite. Sein Gesicht war jungenhaft, umrahmt von braunen Kotletten und dominiert von einem unpassend dichten Schnauzbart.
Als er sie bemerkte, hellte sich seine Miene auf. »Wen haben wir denn da? Ihr seid Garretts Gäste, richtig? Was kann ich für euch tun?« Erst jetzt fiel sein Blick auf die Leiche in Alexanders Armen und er wurde ernst. »Wer …« Er trat näher, räusperte sich und versuchte es erneut. »Wer ist das?«
»Genau das wollen wir gerne herausfinden«, erwiderte Nic und sah ihn ernst an. »Rosa meinte, Sie könnten uns vielleicht dabei helfen?«
»Ich soll sie untersuchen?«
»Nein, das würde ich gerne selbst machen, wenn Sie nichts dagegen haben, ich habe inzwischen ein wenig Erfahrung in der Obduktion von Mordopfern.« Nic deutete auf die vom Eingangsraum abgehenden Türen. »Ich hatte nur gedacht, dass Sie uns vielleicht ihre Räumlichkeiten und Werkzeuge zur Verfügung stellen könnten.«
»Ich kann euch noch viel mehr zur Verfügung stellen: mich.« Er streckte die Hand aus und Nic schüttelte sie. »Ich bin Doktor Holmes.«
»Nic.«
»Alexander.«
»Kommt mit.« Holmes winkte ihnen über die Schulter zu und sie folgten ihm in einen Raum, dessen Wände mit Metall verkleidet waren, und zum ersten Mal, seit sie in Narau angekommen waren, fiel eine Last von Alexanders Schultern. Zunächst wusste er nicht, woher dieses Gefühl kam, doch als er sich umsah, wurde ihm bewusst, dass dieser Raum ihn an Biota erinnerte. Es hätte einer der Tunnel sein können, eines der Häuser, eines der Labore … Er schluckte und versuchte, die Gedanken zu verdrängen. Es hatte keinen Sinn: Er würde Biota nie wieder betreten, nicht, wenn er weiterleben wollte. Trotzdem war es ein angenehmes Gefühl, endlich wieder von Metall umgeben zu sein. Die kalten Wände vermittelten ihm ein Gefühl der Sicherheit, das ihm ab dem Moment gefehlt hatte, als sie mit dem Golem aus der Stadt unter dem Meer geflüchtet waren. Auch Nic sah sich in dem Raum um und Alexander glaubte, ein kurzes Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen.
»Legt sie hier her.« Holmes deutete auf eine Metallbahre im Zentrum des Raums. »Das ist der einzige Raum, den ich euch anbieten kann.« Bedauernd hob er die Hände. »Die anderen sind für weniger drastische Behandlungen gedacht.«
»Sieht doch gut aus, es scheint alles da zu sein, was wir brauchen.« Nic sah sich um und ging zu einem Kasten mit Rollen, auf dem chirurgische Werkzeuge lagen.
Vorsichtig hob Alexander den Leichnam auf die Bahre und trat einen Schritt zurück. Er sah sich zu Rosa um, die direkt in der Tür stehen geblieben war. »Ich muss wieder zurück.« Sie sah erst ihn und dann Nic an. »Wenn ich nicht rechtzeitig für das Mittagessen zu Hause bin, lässt Garrett sich eine Strafe einfallen.«
Alexander nickte. »Kein Problem, von hier aus finden wir den Weg zurück zum Haus. Wir sehen uns dann später. Aber sag Garrett bitte noch nichts von der Leiche, das würde ich gerne selbst erledigen.«
»Kein Problem.« Rosa nickte ihm zu.
Nic hob nur ohne von dem Leichnam aufzublicken die Hand in Richtung der Sklavin. Und auch Holmes hatte sich bereits über das Opfer gebeugt.
Alexander beobachtete die beiden, wie sie auf die verschiedenen Verletzungen des Opfers deuteten und sich darüber berieten, was diese womöglich verursacht haben könnte.
Es war seltsam, beinahe, als würde er Nic doppelt sehen: einmal als sie selbst und einmal in Gestalt eines Mannes Ende zwanzig.
»Wo haben Sie sie gefunden?« Holmes blickte von dem verstümmelten Körper auf.
»Ja, Alex, wo hast du sie eigentlich gefunden?«
»Es ist also wirklich eine Frau?«
»Ja.« Holmes nickte. »Mehr werden wir aber erst nach ausführlicher Untersuchung sagen können. Wo sagten Sie, haben Sie sie gefunden?«
»Bisher habe ich noch gar nichts gesagt. Es ging alles so schnell vorhin.« Noch einmal erschienen die Bilder von der Leiche inmitten der dornigen Büsche vor seinen Augen. »Ich war mit Rosa an der Arena. Und da lag sie. Sie hatte sich durch ein Dornengestrüpp gekämpft, aber … Ihre Wunden waren offenbar zu schwerwiegend.«
»Gut, dann müssen wir darauf achten, dass es Wunden geben kann, die von den Dornen verursacht wurden.« Holmes zog den Wagen mit den Instrumenten zu sich heran und holte aus einem Regal an der Wand ein Notizbuch. »Darf ich noch fragen …« Holmes zögerte. »Nic, Sie scheinen sich hiermit auszukennen. Sie stammen doch aus einer anderen Stadt, was war dort Ihr Beruf?«
»Ich war eine Botania.« Nic richtete sich auf. »Dazu gehört das Studium aller Naturwissenschaften. Am Ende habe ich mich dann für Botanik entschieden.«
»Faszinierend.« Holmes nickte ihr anerkennend zu. »In dieser Stadt sind Sie damit geradezu eine Seltenheit. Hier wird nicht gerade viel Wert auf Bildung gelegt, Sie verstehen?« Die letzten Worte raunte er ihr verschwörerisch zu und Nic lachte. Selten hatte Alexander sich so fehl am Platz gefühlt. Er konnte den beiden nur zuschauen.
»Und Sie? Das ist Ihre Arztpraxis, hat Garrett gesagt.«
»Ja, das stimmt.« Obwohl Holmes offenbar versuchte, bescheiden zu wirken, gelang es ihm nicht ganz. »Das hier war zuerst eine Apotheke. Aber dann kam immer mehr dazu. Die Praxis, das Labor … Ich bemühe mich stetig darum, mehr dazu zu lernen.«
»Bewundernswert.«
»Vielleicht solltet ihr langsam mit der Untersuchung beginnen«, mischte Alexander sich in die Unterhaltung ein, die ihm langsam zu persönlich wurde. »Wir müssen Ergebnisse haben, die wir Garrett präsentieren können. Fundierte Ergebnisse.«
»Garrett?« Verwirrt blickte Holmes von ihm zu Nic. »Welches Interesse hat Garrett denn an ihr?«
»Er …«, begann Nic, doch Alexander unterbrach sie.
»Das ist seine Sache, wenn er es für richtig hält, wird er es Ihnen erzählen.«
»Nun gut.« Holmes zuckte mit den Achseln. »Dann machen wir uns besser an die Arbeit. Mit Pat ist nicht zu spaßen.« Er lächelte Nic verschwörerisch zu. »Ich denke, ihr braucht meine Hilfe nicht, oder?«, fragte Alexander an Nic gewandt. Nic hob die Hände und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Ich würde nämlich gerne mal nach Oliver sehen. Doktor Holmes, wo finde ich ihn? Ich nehme an, er kann Besuch empfangen?«
»Ja, es geht ihm schon besser.« Holmes richtete sich auf. »Das war wirklich knapp, das muss ich schon sagen. Ein paar Stunden mehr …« Er schüttelte den Kopf. »Aber jetzt hat er es überstanden, er war sehr tapfer. Und er wird sich sicher freuen, Sie zu sehen. Sie gehen einfach wieder in den Vorraum und von dort in den Gang geradeaus. Dort befinden sich die Patientenzimmer. Es ist das erste auf der rechten Seite.«
»Gut, danke.« Alexander hatte sich schon abgewandt, zögerte dann aber. »Und danke, dass Sie ihn gerettet haben.«
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