»Was ist mit dir los? Gefällt dir die Stadt auf einmal?«, fragte Alexander leicht genervt.
»Was ist denn mit dir los? Wir haben doch nicht unser Todesurteil unterschrieben. Es kann sich alles zum Guten wenden, wir haben genug Zeit …«
»Nur zwei Wochen«, warf Alexander kritisch ein, doch Nic wischte seinen Einwand mit einer lässigen Handbewegung beiseite. »Das ist genug, wir schaffen das. Außerdem, was ist schon aufregender, als eine völlig neue Stadt zu sehen? Etwas anderes als Biota? Wer weiß, was es hier für Tiere gibt, und die Pflanzen erst …«
Das war es also! In Nic war der Forscherdrang erwacht, sie wollte alles untersuchen, alles sehen, alles entdecken. Nur anscheinend vergaß sie darüber, dass sie kein Labor mehr besaß, in dem neue Entdeckungen irgendeine Bedeutung hatten. Doch Alexander wollte nicht der Spaßverderber sein. Er beschloss, sich von ihrer guten Laune und Zuversicht anstecken zu lassen. Sie hatte ja recht – was nützte es schon, bereits jetzt aufzugeben?
Rosa erschien pünktlich eine halbe Stunde später, die Alexander dazu genutzt hatte, so viel Rührei und Brot in sich hineinzustopfen, wie er schaffte. Es war unglaublich, wie gut hier alles schmeckte, so frisch und so viel intensiver als zu Hause.
Mit neu erwachter guter Laune begrüßte er Rosa überschwänglich und sie wandte sich ihm mit einem kleinen Lächeln zu und betrachtete ihn von oben bis unten.
»Die neue Kleidung steht dir gut«, bemerkte sie, und Alexander wurde rot. Er freute sich über ihr Kompliment, nur konnte er es unmöglich zurückgeben, denn sie trug nur ein schlammfarbenes Tuch, das sie sich wie eine Toga um den Körper geschlungen hatte. Ihre bloßen Füße waren verdreckt, ihre Beine mit schwarzem und rötlichem Staub überzogen. Doch trotz ihrer Aufmachung reckte sie ihm stolz ihr Kinn entgegen. Ein Räuspern riss ihn aus seinen Gedanken und er zuckte zusammen, als hätte er sich verbrannt.
Nic starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Wir sollten losgehen, wir haben wenig Zeit.« Sie warf ihm einen letzten Blick zu, wandte sich um und marschierte aus dem Haus.
Rosa und Alexander folgten ihr auf die Straßen von Narau. Im Gegensatz zum vorherigen Tag war der Nebel nicht so dicht und Alexander konnte tatsächlich den Himmel über dem Vulkan erkennen, an dem feine weiße Wolken entlangzogen. Er hatte auch einen besseren Blick auf das Metallgerüst, von dem er von Zeit zu Zeit ein Klirren und Zischen hörte, und das sich quer über die Stadt erstreckte. Es war gut dreißig Meter breit, und dicht an dicht standen dort Gebäude, deren lange Schlote in den Himmel stachen. Schwarzer und weißer Rauch quoll aus ihnen hervor, und für einen Moment hatte Alexander den Eindruck, dass die Fabriken mit dem weißen Rauch für die Wolken am Himmel verantwortlich waren. Doch das war natürlich Unsinn. Obwohl es früher Morgen war, herrschte bereits emsiges Treiben auf der Straße. Hier, im innersten Ring, tummelten sich Männer und Frauen, die, ebenso wie Rosa, nur einfache Kleidung und einen Eisenring um den Hals trugen und Nahrungsmittel, Holz, Steine, und Kohle in kleinen Karren vor sich herschoben. Vermutlich waren das die Sklaven, von denen Apolonaria gesprochen hatte. Das hieß, alles was sie hier taten, taten sie nicht freiwillig, sondern weil jemand, ihr »Herr«, es ihnen befohlen hatte. Mit einer seltsamen Faszination beobachtete Alexander verstohlen die Menschen mit den glatten schwarzen Haaren.
Wie mochte es sich für sie anfühlen? Sollte er Rosa womöglich danach fragen?
Bevor sie den innersten Häuserring verließen, drehte Rosa sich noch einmal um und machte eine weit ausholende Bewegung.
»Das hier ist das Zentrum von Narau. Offiziell heißt dieser Teil der Stadt ›Mavoria‹, aber die meisten nennen ihn nur ›Center‹.« Sie deutete auf ein Holzschild neben dem Eingang zum Center. In ihren Worten klang etwas mit, ganz sanft und kaum hörbar, doch Alexander hatte den Eindruck, dass dies nicht ihre Muttersprache war. »Mavoria« stand dort in schwarzen Lettern über dem Bild von etwas, von dem Alexander inzwischen wusste, dass es eine Kugel für eine Waffe war. »Die Menschen, die hier leben, sind die momentanen Herrscher von Narau, sie haben das alleinige Recht, die Regeln festzulegen. Ihnen unterstehen sämtliche Geschäfte und sie sind für die Versorgung der Stadt verantwortlich. Es gibt für die anderen Einwohner natürlich jederzeit die Möglichkeit, einen der Caeles herauszufordern. Sollte er ihn schlagen, nimmt er oder sie dessen oder deren Platz ein.« Sie leierte die Informationen herunter, als hätte sie sie auswendig gelernt.
»Schlagen?«, warf Alexander ein. »Du meinst …«
»Ihn töten«, erwiderte Rosa ruhig.
»Oh …« Alexander wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Die Einwohner der Stadt hatten also die Erlaubnis, sich gegenseitig umzubringen?
»Die Herausforderungen finden in der Arena statt und haben ganz spezielle Regeln.« Rosa deutete auf einen weit entfernten Punkt der Stadt. »Man darf also nicht einfach einen der Caeles auf offener Straße hinterrücks erschießen«, erklärte Rosa weiter, die seinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte. »Es geht darum, dass die Stärksten der Gemeinschaft die Stadt leiten. Nur so können wir überleben.« Ihre Erklärung klang für Alexander, als plapperte sie lediglich die Leitsätze ihres Herren nach, doch er traute sich nicht, sie nach ihrer wirklichen Meinung zu fragen, und hielt lieber den Mund. Er hatte später noch genug Zeit, mit ihr zu sprechen. Heute zählte erstmal nur, einen Eindruck von der Stadt zu bekommen.
»Natürlich können nur die richtigen Bürger ein Caeles werden, Sklaven ist es nicht erlaubt, sie herauszufordern«, sagte sie bitter.
»Darf ich dich etwas fragen?« Alexander ging dicht neben ihr her, während Nic ein paar Schritte zurückblieb und sich Notizen machte.
»Natürlich.« Rosa nickte und sah ihn mit einem gekonnten Augenaufschlag von der Seite an. »Alles, was du willst.«
»Alle hier erwähnen immer wieder Sklaven.« Und sie selbst hatten schließlich auch als solche verkauft werden sollen. »Und ich bin nicht sicher, was das bedeutet.«
»Bei euch gab es keine Sklaven?« Rosas Augen weiteten sich, und für einen Moment fiel das kokette Verhalten von ihr ab.
»Warum nicht?«
»Keine Ahnung. Bis ich hierher kam, habe ich gar nicht gewusst, dass so etwas existiert.« Alexander zuckte mit den Achseln. »Warum bist du eine Sklavin?«
Sekundenlang gingen sie schweigend nebeneinander her, bis Alexander schließlich das Gefühl hatte, etwas Falsches gesagt zu haben.
»Ich war fünf.« Rosas Stimme war leise und ruhig. »Männer kamen in das Dorf, in dem ich mit meinen Eltern und Geschwistern wohnte. Es liegt irgendwo dort draußen.« Sie deutete auf die Wände des Vulkankraters. »Sie hatten Waffen. Waffen, die wir noch nie vorher gesehen hatten. Sie wollten alles, unsere ganzen Vorräte, unser Vieh, einfach alles. Das ließen die Männer im Dorf nicht zu. Sie weigerten sich. Ein Mann trat vor und hat sie einen nach dem anderen erschossen, obwohl sie ihm inzwischen alles anboten und vor ihm auf dem Boden knieten. Am Ende war meine ganze Familie tot und auch die meisten anderen aus dem Dorf.«
Alexander konnte nicht anders, als sie anzustarren. Was sie alles durchlebt hatte … Er konnte es sich kaum vorstellen.
»Die Männer nahmen mich mit. Sie meinten, ich könnte entweder mit meiner Familie sterben oder mit ihnen kommen. Ich war fünf, natürlich wollte ich nicht sterben. Also ging ich mit. Und hier bin ich«, schloss sie bitter und eine unechte Fröhlichkeit machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Und hier werde ich auch bleiben.«
Alexander hatte kaum Zeit, ihre Geschichte zu verarbeiten. Schon durchschritten sie das Tor, das in den zweiten Ring der Stadt führte und Rosa fuhr mit ihrer Erklärung fort.
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