»Also … was braucht ihr? Womit werdet ihr anfangen?«
Alexander fühlte sich überrumpelt. Natürlich mussten sie, so schnell es ging, mit ihrer Suche anfangen, aber womit genau
… darüber hatte er sich bisher keine Gedanken gemacht. Und Nics Gesichtsausdruck nach zu urteilen, sie auch nicht.
»So genau kann man das natürlich noch nicht sagen«, begann Alexander zögernd. »Für den Anfang wäre eine Liste hilfreich mit allen Personen, die verschwunden sind, wenn möglich mit dem Ort, an dem sie zuletzt gesehen wurden.«
»Und wo wir ihre Familie finden können oder zumindest denjenigen, dem aufgefallen ist, dass sie verschwunden sind«, warf Nic ein.
»Das lässt sich machen.« Garrett rutschte an die Kante seines Sessels und drehte das Glas in den Händen. »Ihr habt das schon mal gemacht, richtig? Ich meine, Apolonaria hat gesagt, in eurer Stadt hättet ihr einen Mordfall aufgeklärt …«
»Ja, das haben wir auch, eigentlich sogar mehrere«, begann Alexander, unsicher, ob das die richtige Antwort war. Natürlich hatten sie den Fall aufgeklärt, aber das hatte viel mit Zufall und Nics Stellung in der Stadthierarchie zu tun gehabt. Ob die Ermittlungen in Narau ebenfalls erfolgreich wären …
»Sehr gut. Ich verlasse mich auf euch.« Garrett lächelte sie an und zog dabei die Jacke seines Anzugs ein winziges Stück zurück. Alexander sah das silberne Metall einer Waffe darunter aufblitzen. Er blickte Garrett in die Augen und zwang sich ebenfalls zu einer freundlichen Miene. »Ihr plaudert nichts aus, verstanden? Nichts, was ihr über mich oder meine Familie erfahrt, findet seinen Weg in die Ohren anderer Menschen, ist das klar?«
Automatisch nickte Alexander. Bereits jetzt vermisste er Biota mehr, als er erwartet hatte. Er vermisste die Übersichtlichkeit, die Ordnung, die Vertrautheit. Er wollte es sich selbst nicht eingestehen, doch am meisten vermisste er seine Eltern. Was dachten sie von ihm? Sie mussten gehört haben, dass er gegen die Gesetze verstoßen hatte. Niemals würden die Oberen der Stadt zugeben, dass es ihnen dreien gelungen war, zu fliehen. Die anderen Bewohner sollten nicht wissen, dass man die Stadt verlassen konnte. Seine Eltern würden die Wahrheit also nie erfahren.

Jace
Wo war er?
Hastig setzte Jace sich auf, und der Steinboden unter ihren Fingern schürfte ihre Haut auf.
Wo?
Panisch sah sie sich um. Sie erinnerte sich nicht mehr, sie war doch … Sie kniff die Augen zusammen. Er war hier gewesen, er hatte sie mitgenommen, mit in den anderen Raum. Er nannte ihn »Die Räucherkammer«. Sie zitterte. Was war dann … Verschwommene Bilder irrten durch ihre Erinnerung. Sie hatte auf diesem Tisch gelegen und er hatte neben ihr gestanden. Ihre Füße! Sie beugte sich so schnell vor, dass ihr schwindelig wurde. Dann stöhnte sie auf. Die Sohlen ihrer Füße waren rot und roh, voller Blasen und mit schwarzen Stellen übersät. Er hatte ihr die Füße versengt, immer wieder.
Jace schrie, sie schrie so laut, dass es sich anfühlte, als würde ihre Kehle zerreißen. Als sie aufhörte, war da nur die Stille, diese allumfassende Stille, die immer dann herrschte, wenn er nicht da war. Eine Stille, in der sie ihr Blut durch ihren Körper rauschen hörte.
Bis er wiederkam.

Kapitel 2
Am nächsten Morgen erwachte Alexander völlig gerädert, die ganze Nacht hatte er sich voller Sorge von einer Seite auf die andere gewälzt. Er hatte überlegt, was passieren konnte, wenn sie versagten, und wie er genau das verhindern konnte. Ihm war nichts eingefallen, das sie weiterbringen würde. Er kannte die Stadt einfach viel zu wenig. Wie sollte er Pläne schmieden, wenn er nicht einmal wusste, welche Menschen hier wohnten? Welche Berufe übten sie aus? Welche Gegenstände konnte man kaufen? Wer hatte etwas gegen die Vermissten gehabt? Was befand sich außerhalb der Wände dieses Vulkans? Erschöpft fuhr er sich mit den Händen über das Gesicht. Und dann gab es auch noch Oliver. Wie mochte es ihm gehen?
Er betrat das Badezimmer und wusch sich in dem üppigen Becken, doch im Gegensatz zum Vortag hatte es seine Faszination verloren. Es war nur eine Pfütze voller Wasser, die ihn davon ablenken sollte, was ihnen blühte, wenn sie versagten.
Heute würden sie die Stadt erkunden, so war es mit Garrett abgesprochen, der ihnen sogar zugesichert hatte, dass Rosa sie begleiten würde. Er selbst hatte, wie er sagte, »wichtige Geschäfte, die sich nicht aufschieben ließen«. Was auch immer das heißen mochte. Als Alexander den Schrank öffnete, lagen darin wieder seine eigenen Kleidungsstücke. Frisch gewaschen und sorgfältig gefaltet waren sie auf das unterste Regalbrett gestapelt worden. Alexander zögerte. Dann griff er nach der Kleidung, die nun ebenfalls im Schrank lag, aber nicht ihm gehörte. Konnte es schaden, sich ein wenig anzupassen? Sie würden genug auffallen, da konnte er sich zumindest in der Kleiderfrage nach den Einwohnern der Stadt richten.
Er rückte die braune Lederweste zurecht, die er über ein blaues Hemd gezogen hatte, und verließ das Zimmer. Am Tisch im Wohnzimmer wartete Nic bereits auf ihn. Auch sie hatte sich für die Kleidung aus Narau entschieden und trug eine braune Korsage, in der sie sich sichtlich wohlfühlte. Kein Wunder, eine ähnliche hatte sie in Biota auch getragen. Die dunkelgrünen Träger des Oberteils passten hervorragend zu ihren grünen Augen, und als Alexander sie näher in Augenschein nahm, stellte er fest, dass sie mit dünnen glänzenden Steinen besetzt waren. Dazu trug sie einen weit ausgestellten Rock und Stiefel mit Absatz. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht erhob Nic sich, als er das Zimmer betrat.
»Gute Neuigkeiten, Oliver geht es besser, der Arzt hat extra einen Sklaven hierher geschickt, um uns das mitzuteilen, ist das nicht nett?«
»Ja, sehr nett«, murmelte Alexander und setzte sich. »Wann können wir ihn besuchen?« Auch wenn der Sklave gesagt haben mochte, dass es Oliver besser ging, wollte er sich mit eigenen Augen davon überzeugen.
»Das hat er nicht gesagt. Vielleicht fragen wir nachher einfach Garrett oder Apolonaria, was hältst du davon?«
»Wenn du meinst.« Mit diesem Beschluss nicht gänzlich zufrieden, löffelte Alexander sich seinen Teller voll. Viel lieber wäre er sofort losgegangen und hätte nach Oliver gesehen.
»Beeil dich mit dem Essen, Rosa hat in einer halben Stunde für uns Zeit, aber nur, bis sie das Mittagessen vorbereiten muss. Bis dahin sollten wir besser mit der Besichtigung durch sein.« Nic legte ihr Besteck sorgfältig auf den Teller. »Wir sollten uns auch gleich notieren, wo was liegt, dann finden wir es später wieder. Ach ja, und wir müssen unbedingt Notizen machen, was wir uns genauer ansehen wollen. Vielleicht müssen wir dafür noch einmal auf Garretts Hilfe zurückgreifen.
»Hm, hm, richtig«, murmelte Alexander angesichts ihres Wortschwalls nur noch. Sie schien richtig gut gelaunt zu sein, gänzlich in ihrem Element, ein wenig seltsam angesichts ihrer unangenehmen Lage. Erst dann fiel ihm auf, was sie gesagt hatte. »Wieso denn an ihn? Findest du das nicht merkwürdig?«
Nic seufzte. »Doch. Aber willst du ihm sagen, dass du lieber mit seiner Frau darüber sprechen würdest? Ich werde ihm das ganz sicher nicht mitteilen.« Sie zog eine Grimasse.
»Ich auch nicht.« Es war vermutlich besser, Garrett einfach zu gehorchen.
»Ich bin wirklich gespannt.« Zwar saß Nic noch am Tisch, doch sie sah aus, als wollte sie am liebsten losrennen. »Ich hoffe, wir schauen uns auch diese Felder an, die wir auf dem Weg hierhin gesehen haben.«
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