1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Es geht in Wellen eben nicht wie bei Effi Briest darum, dass kunstvoll der Ausbruch aus einer einengenden adeligen Welt beschrieben wird. Nein, Keyserling hebt in dem Moment an, als die Gräfin Doralice, die mit dem jungen Maler Grill durchgebrannt war und nun an der Ostsee eine vermeintliche Salz auf unserer Haut-Idylle lebt, von der Langeweile und der Konvention erfasst wird. Gräfin Doralice hatte das „Leben“ gesucht – und war zu Frau Grill geworden. […]
Die Gräfin Doralice, die sich in ihrer Aussteigeridylle so eingesperrt fühlt wie in ihrer adeligen Heimat, beginnt ausgerechnet mit einem Grafen auf Sommerurlaub anzubändeln, der genau jenem Milieu entstammt, dem sie einst unbedingt entfliehen wollte. So wie hier endet bei Keyserling jeder Fluchtversuch in der Schleife, aus der es kein Entkommen gibt.10
Da ich behaupte, dass Keyserlings Texte überaus geeignete Gegenstände für queere Analysen zu sein versprechen, lässt sich darüber sinnieren, ob die Inhaltszusammenfassung von Florian Illies dieses Versprechen negiert oder untermauert. Nichts deutet auf homoerotische Verwicklungen hin, doch werden wir sehen, dass die Beziehung zwischen Doralice und Lolo von zentraler Bedeutung für den Text ist und dass zumindest die Jüngere eine schicksalsträchtige Passion für die Ältere hegt: Die Rezensionen frappieren, weil sie etwas im Text Offensichtliches nicht in Worte fassen, nämlich ein ‚anderes Begehren‘ der in heterosexuellen Strukturen gefangenen weiblichen Figuren, die von Doralice ebenso auf- und angeregt werden wie die Männer. Dieses ‚andere Begehren‘ erklärt keine der Figuren zu Lesben, doch es führt dennoch dazu, dass sie dankbare Gegenstände für eine queere Analyse sind. Es ist ein Missverständnis, wenn wir glauben, dass queere Analysen besonders dort zielführend sind, wo die Gegenstände schon explizit homosexuell bzw. homoerotisch konnotiert sind. Die Klassiker der schwulen Literatur queer zu lesen ist, als würde man in Kuhmilch Milchpulver geben, um den Geschmackseindruck zu verstärken. Eine queere Lektüre vermag Inhalte, die gegen die Heteronormativität gerichtet sind, gerade in Texten aufzudecken, die einen heterosexuellen Kosmos illustrieren und als heterosexuelle Paarstudie gelten können. Dabei geht es nicht um eine Art psychoanalytischer Literaturwissenschaft, also um den Versuch, auf der Ebene einer jeweils einzelnen Figur etwas Unbewusstes ins Bewusstsein zu heben, das heißt es kann nicht darum gehen, eine der Figuren als ‚eigentlich‘ homosexuell outen zu wollen. Einen Text queer zu lesen, bringt ein kollektiv verdrängtes Textbegehren zum Vorschein. Folgen wir der empirischen Literaturwissenschaft, ist unverkennbar, dass ein Text und seine Figuren immer erst dadurch Sinn bekommen, dass jemand
etwas mit ihnen macht, über sie redet oder sie erfindet, über sie nachdenkt oder sie träumt […]. Indem jemand mit Gegenständen wie Texten etwas tut, schafft er diese Gegenstände, nicht als „Ding an sich“, sondern als ein jeweils bestimmtes Etwas für jemanden.11
Die Texte lassen sich auch aus einer queeren Perspektive „schaffen“, wodurch eine subversive Wirklichkeit generiert wird. Dazu bedarf es keines vermeintlichen Zaubertricks, sondern eines neuen Blickwinkels.
Vergegenwärtigen wir uns, was Queer Reading überhaupt bedeutet. Geht es da nicht immer um Kategorien, die sexuelle Präferenzen bezeichnen, die wir ‚schwul‘, ‚lesbisch‘, ‚bisexuell‘ nennen, oder geht es nicht gar um Phänomene wie Geschlechterrollentausch? Ist ein queerer Text nicht angereichert mit seltsamen Gestalten – was dem englischen Wortsinn nach queer bedeutet –, die in ihrer geschlechtlichen Identität nicht festzulegen sind? Spricht ein queerer Text nicht, in leisen oder lauteren Tönen, von dem verworfenen, verleugneten Begehren?
Während die ersten Fragen eher Vorurteile berühren, ist die letzte unbedingt zu bejahen. Werden Texte gegen den Strich, also queer gelesen, entdeckt man das verleugnete und unter Verschluss gehaltene Begehren als ein durch die Heteronormativität ausgeblendetes Phänomen, von dem die Texte ebenso eifrig erzählen wie von der Liebe zwischen Mann und Frau. Eine queere Lektüre richtet ihr Augenmerk gezielt auf das in der Rezeption bisher ausgeblendete Begehren. Damit ist nicht gesagt, dass alle Texte eine heteronormative Oberfläche und eine queer -subversive Tiefenebene hätten, wohl aber, dass wir in unseren Lektüren meist darauf konditioniert sind, heteronormative Wirklichkeit zu erschaffen, obwohl die Texte und ihre Figuren auch anders gelesen werden können. Unser historisch gewachsenes, prokreatives (fortpflanzungsorientiertes) Sexualverständnis ist durch Begriffspaare geprägt, wonach nur eine Begehrensform als natürlich und daher legitim eingestuft wird, nämlich die heterosexuelle. Diesem konsensorientierten Verständnis nach bedeutet ‚homosexuell sein‘ so etwas wie eine Markierung aufzuweisen. Der betroffene Mensch kann nichts dafür und muss anerkannt werden, seine Existenz ist in Naturgesetzen begründet, aber sie gilt dennoch als Abweichung. Der Status als Abweichung, selbst wenn er nicht abwertend gemeint ist, verhindert es, Heteronormativität zu überdenken. Ihr ist nicht durch homosexuelles Verhalten beizukommen. Sie wird durch die Abweichung nicht relativiert, da eben der Ausnahmestatus der homosexuellen Orientierung die Norm bestätigt statt infrage stellt. Solange die homosexuelle Liebe immer die ‚andere Art‘ zu lieben ist, bedarf jede Anerkennung einer strategischen Rechtfertigung. Queer referiert in der englischen Sprache in erster Instanz auf die Vorstellung von Falschheit, allerdings, worauf in der Einleitung hingewiesen wurde, in ironischer Weise. Was passiert mit unserem Begriffssystem, wenn Figuren, die eindeutig als heterosexuell identifiziert sind, homosexuell begehren und sich dieses Begehren als völlig normal zu erkennen gibt? Eine queere Lektüre ist eine, die die Dichotomie hetero- vs. homosexuell, also die Setzung des Begehrens in ein Begriffspaar, dessen gegensätzliche Teile sich gegenseitig ausschließen, nicht akzeptiert. Eine queere Lektüre akzeptiert die Vorstellung nicht, dass die Heterosexualität die Homosexualität gelungen verdrängt, sprich, dass dort, wo von heterosexueller Liebe die Rede ist, das homosexuelle Moment nicht hörbar sein kann. Da sich die heteronormative Kodierung unserer Gesellschaft (als kultureller Imperativ) ihrer Wahrheit stets neu versichern muss, indem sie permanent eine Ontologie des Gegensatzes zwischen ‚natürlich‘ und ‚unnatürlich‘ betreibt, ist das, was sie verwirft, immer auch auf unbestimmte Weise in die Texte eingesenkt. Der literarische Text besteht nicht außerhalb gesellschaftlicher Konventionen und historisch gewachsener Räume.
Konventionen, Werte, Alltagstheorien im allgemeinsten Sinne sind vielmehr die entschiedenen Faktoren für die Regelhaftigkeit der sprachlichen Praxis. Prädikate wie „literarisch“ müssen deshalb Kommunikaten zugesprochen werden und aus den Regeln und Konventionen, die in einer Gesellschaft jeweils gelten, erklärt und kritisiert werden.12
Deshalb hat es weder mit einer psychischen Verfasstheit des Autors/der Autorin zu tun noch mit der Beschaffenheit des Textes, dass das Queere in ihm für die meisten Leser*innen nicht augenfällig ist. Doch es ist vernehmbar, besonders in Texten wie denen Keyserlings, die so deutlich von dem unerfüllten Begehren ihrer Figuren erzählen und die die heterosexuellen Beziehungen, meist aus der Perspektive der Frauen, als nicht erfüllend und glücklos darstellen. In einem Queer Reading werden die vermeintlich weniger offensichtlichen, gegen die Heterosexualität gerichteten Sinnzusammenhänge herausgestellt.
Читать дальше