Bevor CelanCelan, Paul im Jahr 1952 erstmals wieder deutschen Boden betritt, um an einem Treffen der Gruppe 47 teilzunehmen, und bevor sein Gedichtband Mohn und Gedächtnis erscheint, ist er den Worten seines Biographen Wolfgang Emmerich zufolge ein „Niemand: staatenlos, besitzlos, arbeitslos, namenlos.“2 Im März 1949 berichtet CelanCelan, Paul in einem Brief an den Zürcher Max RychnerRychner, Max, der als Redakteur der Schweizer Zeitung Die Tat im Februar 1948 einige Gedichte von CelanCelan, Paul veröffentlicht, von seiner Lebenssituation in Paris:
[…] ich muß am Ende dieses Briefes sagen, daß es mir nicht gelungen ist, das zu sagen, was ich sagen wollte, und zwar, daß ich sehr einsam bin, und mir keinen Rat weiß mitten in dieser wunderbaren Stadt, in der ich nichts habe als das Laub der Platanen.3
Die Einsamkeit hat mit der Ermordung der Eltern und der schwierigen Beziehung zu Ingeborg BachmannBachmann, Ingeborg zu tun, aber auch mit dem stockenden Beginn seiner literarischen Karriere. CelanCelan, Pauls erstes Buch Edgar Jené und der Traum vom Traume erscheint 1948 in Wien, als er die Stadt bereits in Richtung Paris verlassen hat. Der erste Gedichtband Der Sand aus den Urnen , der ebenfalls 1948 nach der Übersiedlung nach Paris in Wien erscheint, enthält so viele Druckfehler, dass sich CelanCelan, Paul von Paris aus gezwungen sieht, den Band zurückzuziehen. Immerhin erscheinen im Frühjahr 1948, neben den Gedichten in der von RychnerRychner, Max redigierten Zeitung Die Tat siebzehn Gedichte in einer Wiener avantgardistischen Zeitschrift.4
Die erste Publikation von CelanCelan, Pauls Gedichten im deutschen Sprachraum wird in der Zeitung Die Tat von einer falschen Redaktionsnotiz begleitet:
Paul CelanCelan, Paul ist ein junger Rumäne, der, in einem Dorf rumänischer Sprache aufwachsend, durch merkwürdige Fügung Deutsch erlernt hat und in unsere Dichtung hineingezogen wurde. Auf eigene, auffallend schöne Weise hat er seine Stimme in ihrem Chor erhoben, in dem ursprünglich fremden Element wiedergeboren als ein Dichter.5
CelanCelan, Paul stellt in einem Brief an RychnerRychner, Max klar, dass er das Deutsche nicht als fremde Sprache habe erlernen müssen und verkompliziert im selben Atemzug seine Aussage: „Deutsch ist meine Muttersprache, und doch mußte ich deutsche Gedichte als ein Verbannter schreiben.“6
Die Entscheidung des von den Sprachen Rumänisch, Jiddisch, Ukrainisch und Deutsch umgebenen Dichters, trotz des Geschehenen und Erlittenen Gedichte auf Deutsch zu schreiben, wird in den Gedichten selbst thematisch, so schon im frühen Gedicht „Nähe der Gräber“, das 1944 entstanden ist, nachdem CelanCelan, Paul von der Ermordung erfahren hat:
Kennt noch das Wasser des südlichen Bug,
Mutter, die Welle, die Wunden dir schlug?
Weiß noch das Feld mit den Mühlen inmitten,
wie leise dein Herz deine Engel gelitten?
Kann keine der Espen mehr, keine der Weiden,
den Kummer dir nehmen, den Trost dir bereiten?
Und steigt nicht der Gott mit dem knospenden Stab
Den Hügel hinan und den Hügel hinab?
Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim,
den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?7
Die Infragestellung des deutschen Reims in der letzten Strophe des Reimgedichts lässt sich im Sinne eines pars pro toto auf die deutsche Sprache insgesamt beziehen. Nimmt man die Infragestellung nicht nur in Bezug auf den Dialog mit der ermordeten Mutter, sondern auch mit Blick auf die Entscheidung ernst, Gedichte in deutscher Sprache „als ein Verbannter“ schreiben zu müssen, so ist dies auch für den späteren Wohnort Paris als Ort des Schreibens relevant. Es macht einen gravierenden Unterschied, ob deutsche Gedichte in einer deutschsprachigen oder in einer fremdsprachigen Umgebung geschrieben werden. Insofern ist Paris gerade in CelanCelan, Pauls unausgesetzter Entscheidung, auf Deutsch zu schreiben, stets gegenwärtig. In das Deutschsprachige der Gedichte CelanCelan, Pauls ist das Französischsprachige des Wohn- und Schreiborts Paris als erste und wichtigste Bedingung eingegangen. Es handelt sich um eine latente Form der Mehrsprachigkeit, die im Sinne einer Mehr-als-Einsprachigkeit zu verstehen ist. Der damit verbundene Zwang, Gedichte „in der Sprache der Mörder“8 aus einer Position der existentiellen und sprachlichen Exterritorialität schreiben zu müssen, lässt sich als ein stummer, verschluckter Affekt verstehen, der auf der „Oberfläche des Sprechbaren“9, um AusländerAusländer, Roses Formulierung aufzugreifen, nirgends sichtbar oder hörbar wird.
Die Poetik des in sich mehrsprachig verfassten Gedichts ist bei CelanCelan, Paul eine andere als bei AusländerAusländer, Rose. Während bei AusländerAusländer, Rose die Mehrsprachigkeit des einstmals Vereinigten und Verbrüderten zumindest in der Erinnerung des lyrischen Worts anwesend ist, wird bei CelanCelan, Paul die Sprache des Gedichts ungeachtet seiner mehrsprachigen Verfasstheit in Mitleidenschaft gezogen. Dies reflektiert bereits CelanCelan, Pauls erste Buchpublikation Edgar Jené und der Traum vom Traume , die äußerlich eine Würdigung des Wiener surrealistischen Malers Jené ist, im Kern aber zentrale Aspekte von CelanCelan, Pauls Poetologie enthält.10 Die Reflexion betrifft insbesondere den Begriff des „Geschehenen“, das als ein „das Eigentliche in seinem Wesen Veränderndes“, als ein „starker Wegbereiter unausgesetzter Verwandlung“ bezeichnet wird.11 Aus dieser Verwandlung resultiert eine grundlegende Veränderung der Sprache:
Ich war mir klar geworden, daß der Mensch nicht nur in den Ketten des äußeren Lebens schmachtete, sondern auch geknebelt war und nicht sprechen durfte […] weil seine Worte (Gebärden und Bewegungen) unter der tausendjährigen Last falscher und entstellter Aufrichtigkeit stöhnten – was war unaufrichtiger als die Behauptung, diese Worte seien irgendwo im Grunde noch dieselben!12
Spätestens, wenn im Kontext dieser Stelle von der „Asche ausgebrannter Sinngebung“13 die Rede ist, wird deutlich, dass der Bezugspunkt der Rede von der wesensverändernden Kraft des Geschehenen und der Grund für das Stöhnen der unter Unaufrichtigkeit und Lüge leidenden Worte die Erfahrung der Shoah ist, die in der Geschichte der Menschheit eine tiefgreifende Zäsur bedeutet. In CelanCelan, Pauls Antwort auf eine Umfrage der Pariser Librairie Flinker von 1958 heißt es:
Die deutsche Lyrik geht, glaube ich, andere Wege als die französische. Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint.14
„Nicht mehr die Sprache sprechen“ können, die zuvor vielleicht noch möglich schien. Im selben Jahr beschreibt CelanCelan, Paul in seiner Bremer Literaturpreisrede den Weg, den die Sprache stattdessen zu gehen hat:
Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, „angereichert“ von all dem.15
Die Notwendigkeit, dass die Sprache durch das „Geschehen“ hindurchgehen muss und verändert wieder hervortritt, zeigt an, dass Welthaltigkeit und Wirklichkeitsbezug in CelanCelan, Pauls Poetik eine wichtige Rolle spielen. Vom Engagement absoluter Poesie 16 hat zu Recht Marlies Janz gesprochen. Zugleich deutet sich in der Ambivalenz, dass die Sprache zutage tritt und keine Worte hergibt für das, was geschah, eine Unverfügbarkeit des Geschehens für und durch die Sprache an.
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