Erreichen lässt sich in einer Institution nur dann etwas, wenn man grundsätzlich deren Charakter, also auch denjenigen einer oft langsamen, ja eben ›bedächtigen‹ Arbeitsweise akzeptiert, ihre Vorteile anerkennt und erst dann die daraus entstehenden Nachteile korrigiert. Universitäten sind konservativ: im Wortsinn und als Funktionsbeschreibung gemeint. Es sind besonders die Humanities, die diese konservativ-konservierende Seite vertreten. Das sieht man den Vertreter*innen der Fächer an, ihrem Habitus und ihren Tätigkeiten. Ihr Denkstil ist in vieler Hinsicht auf konservative Praktiken hin ausgelegt. Allerdings sind diese Fächer damit nur zur Hälfte beschrieben.
Weder die Universität selbst noch die Humanities sind nur konservativ. Ganz im Gegenteil: Schließlich wird das Wissen von morgen in den Forschungslaboren, Universitätskrankenhäusern, aber auch an Schreibtischen und in Seminarräumen entwickelt. Dabei geht es nicht nur um technischen, technologischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt, sondern ganz zentral auch um das Wissen, mit dem sich eine Gesellschaft selbst beschreibt und verständigt, mit dem sie Arbeitsleben und Familie, Geschlechterverhältnisse und Kindererziehung, kulturelle Vielfalt und Innovation, Tradition und Erinnerung, Gesundheit und Religiosität neu konzipiert, verwandelt, kommuniziert und kritisiert.
Insbesondere die Literaturwissenschaften zeichnen sich also durch die Spannung zwischen einer konservativen Seite ihrer Praktiken und Aufgaben und zugleich einer Seite innovativer, oft sehr experimentierfreudiger, meist theoretisch versierter Ansätze aus. Das passt nicht gut zusammen und erzeugt Konflikte. Obwohl die Kombination fast unmöglich erscheint, kann auf keine der beiden Seiten verzichtet werden: Betrachtet man eine Seite isoliert, wirkt es entweder dröge oder schrill.
Rita Felski nennt in ihren viel beachteten Publikationen vier verschiedene Praktiken, die Humanities zu kombinieren haben: »curating, conveying, critizing, composing« (Felski 2016: 216). Die ersten beiden, ›curating‹ und ›conveying‹ möchte ich zusammenfassen in dem, was ich als ›konservativ‹ bezeichne. Critizing und composing werde ich ihnen gegenüberstellen und im Sinne von Kritik und – statt ›composing‹ – Urteil also auf der Seite des Experimentellen und Innovativen verorten. Die Unterteilung in die beiden Komponenten ist vielleicht meinem besonderen Fokus auf die Germanistik geschuldet, da hier die Debatten um die Einführung von kulturwissenschaftlichen Ansätzen, Themen und Methoden bzw. auf der anderen Seite um eine »Rephilologisierung« (vgl. Erhart 2003b) des Faches besonders heftig geführt wurden, also die Polarisierung von konservativ-kurativ und kritisch-innovativ kontrovers diskutiert wurde. Interessant sind die Spannungen innerhalb der Germanistik auch, weil sie als Nationalphilologie im Rahmen der deutschen Kultur- und Wissensgeschichte – mehr noch und anders als etwa die Romanistik oder die Amerikanistik/Anglistik – gewissermaßen intrinsisch eine Art Umbau oder sogar eine Form der Selbstauflösung betreibt. Warum?
Die konservativ-konservierenden Praktiken Felskis, ›curating‹ und ›conveying‹ fallen zusammen mit dem, was man als philologische Praktiken im besten Sinne bezeichnen kann. Sie gehören zum Kernbestand der Literaturwissenschaften und ihre Berechtigung und ihr Wert sollten nicht in Zweifel gezogen werden. Allerdings: Philologen – insbesondere auf dem Gebiet der Germanistik – braucht man nicht viele und man wird in Zukunft immer weniger von ihnen brauchen. Hier ist Albrecht Koschorke zuzustimmen, der darauf hinweist, dass diese Art von Germanistik schrumpfen wird – und zu Recht (vgl. Koschorke 2015: 587–594). Die deutschsprachige Literaturgeschichte ist vergleichsweise kurz, sehr prominent und entsprechend gut erforscht. Es gibt noch viel zu forschen, aber die Menge an Dissertationen und Publikationen steht in keinem Verhältnis zum Material, das erforscht wird. Nicht selten sind es zudem Mainstream-Gebiete, die sich besonderer Beliebtheit erfreuen, Redundanzen lassen sich daher nicht vermeiden. Dazu gehören allerdings nicht nur die ›großen‹ kanonischen Autoren, sondern bedauerlicherweise auch viele theoretische Texte aus den letzten Jahrzehnten, die weit mehr Aufmerksamkeit erfahren haben, als notwendig gewesen wäre, um sie angemessen zu rezipieren. Das dient dem Renommee eines Faches nicht. Weniger Quantität und höhere Qualitätsstandards wären oft angebracht. Schließlich ist nicht jeder, der schnell lesen kann, ein guter Philologe. Dazu bedarf es spezifischer und seltener Begabungen, eines hohen sprachlichen Feingefühls, einer langen Ausbildung und komplexer Kompetenzen.
Die Lage auf der anderen Seite der Literaturwissenschaften, also auf der kritisch-innovativen, ist womöglich noch schwieriger zu beschreiben, denn sie zeichnet sich durch ein hohes Maß an Veränderungen aus, die sowohl den Bereich der zu erforschenden Gegenstände – also eigentlich Texte und Bücher – als auch Methoden und Theorien und so letztlich immer das Selbstverständnis des Faches betreffen. Die Germanistik hat sich – und das gilt in etwas anderer Weise auch für andere Nationalphilologien – mit der Geschichte der jeweiligen Nationalstaaten im Rahmen einer Globalgeschichte der letzten 200 Jahre vollkommen gewandelt. Und dies ist selbstverständlich nur zu begrüßen: Als Selbstversicherung einer nationalen, bürgerlichen Identität ist das Fach obsolet geworden, ja, es wäre eine politische Provokation.
Die entscheidenden Impulse kamen dabei aus verschiedenen Literaturwissenschaften und aus den neu entstehenden Kulturwissenschaften, die zusammen seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Herausforderungen einer sich selbst suspekt werdenden Moderne begegneten und sie auf kreative und einflussreiche Weise aufarbeiteten. Das Fach Germanistik bzw. die Literaturwissenschaften haben sich durch diese Einflüsse fundamental verändert: Manche Gebiete, die zuvor als kleine Unterabteilungen fungierten – wie die Medienwissenschaften –, haben eine spektakuläre Konjunktur erlebt und sind zu eigenen Fächern, ja Fachbereichen geworden. An anderen Stellen haben sich Querverbindungen und Vernetzungen gebildet – etwa in allen Bereichen des ›Transkulturellen‹, des ›Postkolonialen‹ –, die dafür sorgen, dass die Grenzen des Faches diffus – noch diffuser – wurden. Im Grunde sind Fächergrenzen immer diffus, das zu ignorieren, lässt ideologische Interessen vermuten.
Man könnte hier verschiedene Beispiele für die Art und Weise der Wirkung und Bedeutsamkeit kulturwissenschaftlicher Forschung anführen; ich wähle die lange und hochinteressante Debatte über ›Erinnerung‹ und Gedächtnis, die heute in vielen Sparten geläufig ist. Sie angestoßen zu haben, ist u.a. ein Verdienst von Aleida und Jan Assmann, die dafür 2017 berechtigterweise einen der höchst dotierten Wissenschaftspreise, den Balzan-Preis, erhielten. Wenn heute Begriff und Konzept des ›kulturellen Gedächtnisses‹ viel geläufiger sind als der Name der beiden ›Erfinder‹, so ist das eine ähnliche Leistung wie diejenige, das ›Unbewusste‹ entdeckt oder erfunden zu haben. Die Problematisierung von ›Erinnerung‹, die Konzeption des kulturellen Gedächtnisses und deren Theorie verhalfen gerade zur kritischen Revision nationalistischer Selbstkonstruktion, und diese Kritik diente nicht nur der Dekonstruktion nationaler Mythen, sondern eben auch der Dekomposition von Disziplinen, die ursprünglich solche nationalen Selbstfindungsfunktionen erfüllten. Solche Themenfelder weiterhin zu identifizieren und zu bearbeiten, ist heute dringender denn je. Ohne kulturwissenschaftliche Expertise wird man dem verheerenden Trend zum Vergessen nicht beikommen.
Die Geisteswissenschaften können nicht mit den gleichen Kriterien der Relevanz, der Effektivität und der Produktivität evaluiert werden wie technische oder naturwissenschaftliche Fächer. Wie wollte man den Wert der Assmannschen Forschungsleistung evaluieren, die sich über Jahrzehnte entfaltet und sich über die verschiedensten Gebiete politischer Entscheidungen, disziplinärer Forschung, internationaler Beachtung und kultureller Wirksamkeit, ja sprachlicher Veränderung und Innovation erstreckt? Ein Einfluss, der weit größer sein dürfte als derjenige, den einzelne Wissenschaftler*innen, wie die vom Spiegel apostrophierten, je gehabt haben dürften. Vermissen wir die ›großen‹ alten Männer wirklich? Können wir an ihnen den Einfluss eines Faches bemessen? Es dürfte doch vielleicht den ebenfalls viel geschmähten Gender Studies zu verdanken sein, dass wir darüber heute differenzierter urteilen können.
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