Das, was „aber“ bleibt, ist Ergebnis eines Stiftens. Stiften, d.h.: hervorbringen, ins Werk setzen, errichten, gründen, ursprünglich eine kirchliche Institution, z.B. eine dann so genannte Stiftskirche. Man kann Frieden, Ordnung, aber auch Unheil stiften. Religionen werden gestiftet.33 Im Hymnenfragment Luther („meinest du/Es solle gehen[…]“) wird der Untergang der griechischen Kultur dadurch erklärt, dass die Griechen ein Reich der Kunst „stiften“ (V. 3) wollten und darüber das „Vaterländische“ (V. 5) versäumten. Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm wird im Lemma Gedächtnis sowohl die Wendung ‚ein Gedächtnis geben‘ als auch ‚das Gedächtnis stiften‘ vermerkt, ebenso ‚ein Gedächtnis stiften‘ durch eine Stiftung. Eine Institution wie das Tübinger Stift oder die Fugger-Stiftung in Augsburg wird auch gestiftet zum Andenken oder Gedächtnis des Stifters. Mit diesem Gedicht, heißt das auch, hat Hölderlin auch ein Andenken an sich selbst gestiftet. Im Kontext des Gedichts evoziert, vorbereitet durch den „entlaubten Mast“, der Ausdruck ‚stiften‘ auch den Stift zum Schreiben und Zeichnen.
Was macht das dichterische Werk aus, wenn von ihm gesagt werden kann, dass es bleibt? Wenn es, entnehmen wir die Antwort diesem Gedicht, individuelle Erinnerungen in ein Andenken überführt, wenn dieses Andenken das, worauf es gerichtet ist, auf menschliche Grundsituationen wie Liebe, heroische Taten, Aufbruch, wie die Vermittlung des subjektiven Handelns mit der Natur und der Geschichte, die Vermittlung von Fernem und Nahem, Einsamkeit und Gespräch, wie die Feier, wie die Gefahr des Selbstverlusts und die Selbstbehauptung hin öffnet. Wenn das Gedicht das Andenken selbst als die Kraft des Bewahrens und geistigen Durchdringens vorführt, wenn es eine künstlerische Form findet, die dem Gang des Andenkens eine ästhetische Evidenz verleiht. In einem Brief spricht Hölderlin vom „Kunstverstand“, der den „Genius vor der Vergänglichkeit bewahrt“ (389). Als solches, mit Kunstverstand formuliertes Andenken kommt Dichtung immer nach den Taten und Tagen, welche geschehen. Dichtung ist für Hölderlin wesentlich in solches Andenken überführte Erinnerung.
Damit das dichterische Werk bleiben kann, ist noch die Erfüllung einer weiteren Bedingung nötig. Gestiftet wird einem Adressaten für einen bestimmten Zweck. Die Fuggerstiftung soll z.B. Kranke und Bedürftige unter den Katholiken Augsburgs unterstützen. Auf das Gedicht bezogen heißt dies, gestiftet wird das Gedicht dem Leser oder Hörer zu seinem Nachdenken und zu seiner Freude. Mit der Stiftung soll etwas ins Werk gesetzt werden, sollen die Leser und Hörer angestiftet werden, im Sinne des Stifters etwas zu tun. Dies ist dann die Sache von uns Lesern und Hörern. Wir tragen dazu bei, ob das, was Dichter stiften, bleibt.
Literaturverzeichnis
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