Er muss bis zur letzten Zeile des mehrere hundert Seiten langen Werkes warten, bis es Eco doch noch gefällt, seinen Erzähler und Romanhelden Adson von Melk Licht ins Dunkel bringen zu lassen – vergleichbar dem Schein der Lampen, mit denen sich William und Adson am Schluss des Romans bei Nacht den Weg durch das Labyrinth der Bibliothek bahnen und das Rätsel der Mordserie lösen. Wie er im Prolog und im Epilog schreibt, blickt Adson als alter Mann auf sein Leben zurück und erinnert sich der geheimnisvollen Morde in besagter Benediktinerabtei. Er selbst hat seinen Mentor William von Baskerville bei der Aufklärung dieser Verbrechen unterstützt. Die beiden finden während ihrer Ermittlungen zahlreiche und widersprüchliche Hinweise zu Motiven und Tätern, die schließlich – mehr zufällig als beabsichtigt – zur Klärung der Mordfälle beitragen. Dass die Bedeutung der Indizien beiden Mönchen leider nicht immer – zumindest sofort – einsichtig wird, muss selbst der mit hohem detektivischen Spürsinn begabte William von Baskerville – der Sherlock Holmes in Ecos Roman5 – eingestehen.6 So gibt es aber für den Leser immer wieder überraschende und spannende Wendungen in der Geschichte.7
Was bedeutet die Bezeichnung „Name der Rose“ nun? Die Kriminal- oder Detektivgeschichte ist buchstäblich das „Tatindiz“, das die „Spur“ zum „Beweis“ legt. Der lateinische Schlusssatz liefert dann das entscheidende „Beweismittel“, das zur „Aufklärung“ des „Falles“ führt. Der „Name“ ist des Rätsels Lösung! Ist der Leser an das Ende des Romans gelangt, dann muss er keine Mühe mehr aufwenden, „kriminalistisch zu kombinieren“, denn die „Indizien“ sprechen für sich. Der erste Teilsatz – „Stat rosa pristina nomine“ – spielt auf den in der Philosophie und Theologie der Hochscholastik bedeutsamen sogenannten „Universalienstreit“ an und dabei besonders auf den „Nominalismus“ in seiner gemäßigten Ausprägung des „Konzeptualismus“, den William von Ockham vertrat.8 Seine Spiegelfigur im Roman – „nomen est omen“ – ist William von Baskerville. Die reale wie die fiktive Person tragen denselben Vornamen, sie haben dieselbe Nationalität und vor allem teilen sie die gleiche philosophische Erkenntnistheorie. Der in dem Satz „Stat rosa pristina nomine“ angesprochene „Name“ – das „nomen“ – bedeutet nichts anderes als „Zeichen“. Was „zeichnet“ ein solches „Zeichen“ aber nun „aus“? Ein Zeichen ist ein stellvertretend für einen Gegenstand stehender Bedeutungsträger. Hier ist es das intellektuell-logisch gebildete Sprach- und Wortzeichen „Rose“ – ein Abstraktum – für die empirisch-sensuell erfasste Pflanze – ein Konkretum. So vermittelt der „Name“ „Rose“ eine buchstäblich „ sinn volle“ gedankliche Vorstellung und kann sie selbst dann noch bewahren, wenn das von ihm benannte Objekt gar nicht mehr vorhanden ist, wenn also – wie es im Zitat weiter heißt – die zarte und empfindliche, wirkliche Rose „von einst“ (vgl. „pristina“) längst verblüht und verwelkt ist. Es entsteht beim Sprecher wie beim Hörer des Sprach- und Wortzeichens „Rose“ somit ein bleibender gedanklicher Eindruck. Der „Name“ „Rose“ hat eben eine Bedeutung, und er hat damit zugleich Bedeutung. Zeichen bilden also Bedeutungen aus, und sie bilden folglich Erkenntnis. William von Baskerville als Alter Ego Williams von Ockham beschreibt diesen Begriffsbildungsprozess mit der Metapher der „Leiter“,9 die der Mensch zum Erkenntnisaufstieg unbedingt benötige.
Sein Schüler Adson hingegen radikalisiert diese epistemologische Position, wie der zweite Teilsatz des Schlusssatzes belegt: „Nomine nuda tenemus.“ Dieser Satz verweist auf einen tiefen Erkenntnisskeptizismus, ja eher schon einen grundsätzlichen Erkenntnispessimismus. Bezeichnungen sind für Adson im doppelten Wortsinn „bloße“ Zeichen. Sie sind nichts anderes als „bloße“ – also „nackte“ („nuda“) – „Namen“ und daher auch nur „bloß“ „Namen“. Sie sind dann „gleich bedeutend“ und somit auch „gleichbedeutend“. Dadurch verlieren sich die Zeichen im „sprachlichen Irgendwo“ des „logischen Nirgendwo“ wie ein Suchender in einem Labyrinth. So verirren sich auch Adson und William – im übertragenen Sinne – erst beinahe im „Labyrinth“ der Mordgeschichte und danach – im wörtlichen Sinne – fast noch im Labyrinth der Abteibibliothek. Die mit den Zeichen bezeichneten Bedeutungen haben dann eben keine eindeutige Bedeutung mehr. Die Bedeutung wird arbiträr. Daher spielt die „Rose“ außer im Titel wie am Schluss des Romans überhaupt keine Rolle, so dass der Leser während der Lektüre zu Spekulationen verleitet wird – und diese Wirkung ist vom Autor genau so beabsichtigt.10 Eco lässt seinen Adson damit aus der Zeit herausfallen. Er ist kein Mensch des Mittelalters mehr, sondern ein Vertreter des philosophischen Postmodernismus unserer Tage. Für ihn gilt das postmoderne Postulat des Wahrheitspluralismus und – in seiner Konsequenz – des Wahrheitsrelativismus. Die Dominanz einer einzigen Wahrheit oder gar eines einzigen Wahrheitssystems hat danach endgültig ausgedient. Was die Wahrheit anbelangt, so kann es jetzt nur noch um Heterogenität anstelle von Homogenität, um Multiperspektivität anstatt Monoperspektivität und um Alterität statt Uniformität gehen.11 Dieses postmodernistische Axiom von der notwendigen Auflösung der Hegemonie einer einzigen Wahrheit schlägt sich deutlich auch in der Handlung des Romans nieder. Galt in der mittelalterlichen Welt die Kirche als alleinige Hüterin von Glaube und Wissen, so lässt Eco sie im Roman an diesem Selbstanspruch scheitern, indem er diesen in der Figur des Inquisitors Bernard Gui ad absurdum führt. Wer Zwang und Gewalt zum „Schutz“ der Wahrheit anwendet, der begeht ersichtlich Unrecht, und der befindet sich daher im Unrecht. Wahrheit braucht schließlich keine Gewalt, denn sie setzt sich aus eigener Kraft durch.12
Wer so redet wie Adson, nimmt gravierende Konsequenzen in Kauf. Der Wahrheitszweifel muss, wenn man ihn denn in aller Strenge bedenkt und anwendet, in den Gotteszweifel führen. Wenn sich schon über die Welt nichts mehr Endgültiges aussagen lässt, dann erst recht nicht über Gott. Gott ist nur noch eine denkerische Möglichkeit, eine mögliche Realität, vergleichbar der möglichen Realität eines fiktionalen Textes wie dem Roman – eben „bloß“ ein „Name“.13 Auch die Gottesvorstellung wird so untergraben. Der Gotteszweifel führt zum Glaubenszweifel und dann auch zum Lebenszweifel. Zweifel wird zur Verzweiflung, denn „Sinn“ wird buchstäblich zum „Irr-Sinn“, weil jede „Wahrheit“ wegen des ständigen Verdikts des Irrtums nur eine vermeintliche Wahrheit sein kann. So wird die Sinnsuche zwangsläufig zu einer Sinnsuche ad infinitum – also zur ständig irrenden und darüber irrewerdenden Sinnsuche. Das bedeutet für den Menschen nicht nur „ein Ende mit Schrecken“, sondern sogar wirklich „ein Schrecken ohne Ende“ – sozusagen die wahre „Hölle auf Erden“! Dass der Figur des Adson von Melk diese fatalen Zusammenhänge völlig klar sind, beweist ein Zitat aus dem Epilog des Romans. Darin ist Adson die Verzweiflung darüber deutlich anzumerken:14 „Und ausgelöscht sein werden die Unterschiede, ich werde eingehen in den einfältigen Grund, in die stille Wüste, in jenes Innerste, da niemand heimisch ist. Ich werde eintauchen in die wüste und öde Gottheit, darinnen ist weder Werk noch Bild […].“15 Ein Verlöschen im Nichts – das ist das düstere Schicksal, das Adson nach seinem Tod für sich erwartet. Postmodernismus bedeutet eben zwangsläufig Agnostizismus, wenn nicht sogar Atheismus. Dass ausgerechnet ein Mönch, der zudem noch am Ende seines Lebens steht, zu dieser resignativ-pessimistischen Erkenntnis kommt, ist bittere Ironie! Und Ironie – das Lachen – ist dann auch nach den von Eco seiner Figur William von Baskerville in den Mund gelegten Worten die scharfe Waffe, gegen die Wahrheit der fanatischen „Wahrheitspropheten“16 wirksam anzukämpfen. Das freimütige Lachen soll den heiligen Ernst der Wahrheit besiegen. Das Lachen wird zum Verlachen des Wahrheitsoptimismus der philosophischen Tradition.17 Ironie bilde – so Eco in seiner Nachschrift zur „Name der Rose“ – die Ästhetik des Postmodernismus.18 Postmoderner Stil ist also Gegenrede zur Rede.
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