Ut7 queant laxis |
Auf dass mit lockeren Stimmbändern |
Resonare fibris |
singen (zum Klingen bringen) mögen |
Mira gestorum |
von den Wundern Deines Tuns |
Famuli tuorum |
Deine Schüler |
Solve polluti |
löse der sündhaften |
Labii reatum |
Lippe Schuld |
Sancte Iohannes. |
Heiliger Johannes. |
Georg Lange behandelt das Thema in seiner Dissertation Zur Geschichte der Solmisation und schlägt folgende Übersetzung vor: „Damit die Diener die Wunder Deiner Thaten mit beruhigtem Herzen singen können, so löse die Schuld des sündigen Mundes, heiliger Johannes.“8
Die romanischen Sprachen haben bis heute das Guidonische Systembeibehalten.9 Das deutsche Notensystem orientiert sich an der mittelalterlichen, alphabetischenTradition. Durch seine praktischen Erfahrungenals Chorleiterkreierte Guido von Arezzo ein mnemotechnisches Systemmit dem erkennenden Augeals visuellem Mittel, der bezeichnenden Spracheals Merkversbzw. -melodie, begleitet von der zeigenden Hand.10 Das Zeichensystemder Guidonischen Hand11 zur Unterstützung des Gedächtnissesfolgte der Idee, dass jeder spezifische Teil der Hand, also Fingerspitzen und -gelenke, den sechs Stufen der Tonleiter ut-re-mi entspricht.
In der folgenden Abbildung12 ist nicht nur die Guidonische Hand aus dem 13. Jahrhundert abgebildet, sondern auch die Lehrperson,die eines Klerikers, vermutlich Guido von Arezzo ( Abb. 2).13 Seine linke Hand ist überdimensional vergrößert und die rechte Hand zeigtdarauf. So konnte im zeitgenössischen Unterricht der Lehrer mit dem Zeigefinger14 der rechten Hand exakt die Position der Tonfolge auf der linken Handfläche angeben. Im Außenkreis sind im Uhrzeigersinn die Solmisationssilben in Leserichtung von unten nach oben erkennbar. Im über der Hand stehenden Text des Caput VI seines Musiktraktats beschreibt der Autor die Überlegenheit der guidonischen Musiklehre15 und verkörpert somit einen Metatext, da die Figur nicht nur theoretische musica vermittelt, sondern auch aktiv zum richtigen Singen anleitet.
Die Guidonische Hand verbindet akustisch-artikulatorischeKomponenten (das Singen), visuelleKomponenten (das Sehen) und haptischeKomponenten (das Greifen und Zeigen der Hand) zu einem multisensoriellenAkt. Das Greifen der Töne ermöglicht das Begreifen der Musik. Diese Verknüpfung der Reize kann lernpsychologisch als Hauptelement des unbewussten Lernensdurch Konditionierungbetrachtet werden. Rhythmus und musische Elementewaren im Mittelalter damit integraler Bestandteildes Sprachunterrichts.
Den meisten Schülern wurde die lateinische Sprache im Mittelalter in „Singschulen“vermittelt.16 Durch einfaches Singenwurde zunächst der Rhythmusund Sprachflusseingeübt. „After the rhythm and flow of the language had been drilled by plain chant, which was based solidly on speech rhythms, the pupil began the formal study of Latin.”17
Der Lateinunterricht folgt hier also primär der mündlichen Traditiondes Fremdsprachenunterrichts. Der Chorgesang( plain chant ) knüpft an die antike Tradition der rhetorischen Memoria -Lehre an und ermöglicht das natürlicheLernen.18 Die Funktion des Lernens im Chor, das bis heute als gemeinsames Singenpraktiziert wird, übernahm seit der Antike ein Sprechchor.Müller beschreibt die Entwicklung des Per-chorum- Lernens.19 Es handelt sich um
gleichzeitiges, rhythmisch gegliedertes ‚Aufsagen‘ von Sätzen und Texten […]. Der Chor der Antike war ein Sprechchor, der wohl auch durch Rhythmen einfacher Instrumente gegliedert und synchronisiert werden sowie in regelrechten Chorgesang übergehen konnte.20
Dieses rhythmische Lernenwurde dann auch auf den Fremdsprachenunterricht übertragen,als die Römer begannen, Griechisch zu lernen. Dabei wurden Ausspracheweiseund Intonationim Unterricht metrisch vermittelt21 sowie der auswendig gelernte Stoffdann mündlichgeprüft. Kelly beschreibt, dass Vergil-Rezitationen mit dieser Methode zum bevorzugten Unterrichtsstoff wurden.22
Abb. 2:
Kleriker mit Guidonischer Hand. Elias Salomo: Scienta artis musicae (1274) Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cod. D75 inf., fol. 6 r. Nach J. SMITS VAN WAESBERGHE, Musikgeschichte in Bildern, Bd. III/3. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1969, Abb. 72, S. 137.
Abb. 3:
Auszug aus Walter RIPMAN, A handbook of the Latin language. London: Temple Press 1930, S. 800.
Diese Memorisierungs- und Rezitationsfunktionwird von Walter Ripman23 wieder aufgenommen und im Rahmen der direkten Methode 24 angewendet ( Abb. 3). Man erkennt eine an die mündliche Ausspracheangepasste phonetische Transkriptionmit diakritischen Zeichenund suprasegmentalen Elementen wie der Tilde für Nasalierung, Liaison und Assimilierung (im Sinne der narrow vs. broad transcription ).25
Die bis hierher dargestellte Entwicklung bezog sich mit den kirchlich-liturgischen Lateinlehranstaltenvor allem auf den klerikalen Bereich.Vereinzelt gab es aber auch weltliche Unterrichtsformen.Ein Beispiel dafür ist Egbert von Lüttichs Fecunda ratis 26 („Das vollbeladene Schiff“). Das in Hexametern geschriebene Buch präsentiert sich als Schiff, eine Parabel auf eine Fahrt durchs Leben. So ist das Buch gegliedert in ein prora (Vorderdeck) mit 1768 hexametrischen Versen und ein puppis (Heck).27
Egbert war Lehrer an der Domschule zu Lüttich28 und sein Lehrbuch sollte den Schülern die lateinische Sprache freudvollnäherbringen. Wieder steht die intrinsische Lernermotivierungmit Lernen durch Spaß und Freudeim Mittelpunkt. Dieses Florilegium für jüngere Schüler enthält Auszüge antiker Autoren (wie Vergil, Ovid, Horaz und Seneca) sowie aus der Bibel und christlicher Literatur (Augustinus, Gregor der Große). Interessanterweise finden sich in der Sammlung volkssprachliche narrativeElemente wie auch mittelalterliche Fabeln (beispielsweise Reynard = Reineke Fuchs), Sprichwörter und Volksweisheiten („Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“), Volksmärchen ( De puella a lupellis servata / „Das vor den Wölfen gerettete Mädchen“, also ein Vorläufer von Rotkäppchen), Reime, Klagelieder29 und Zitate aus dem 11. Jahrhundert, die explizit für den (säkularen) Unterrichtdes Triviums von Egbert selbst ins Lateinische übersetztund in dieses pädagogische Konzept integriertwurden.30 Einige dieser volkssprachlichen Elemente nahm Egbert zuerst direkt nach seinem Widmungsbrief auf. Der Geleitbrief richtet sich ad Alboldum episcopum und meint damit den Bischof Adalbold (Adelbold, Albold) von Utrecht.31
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