Nach einem Aphorismus des deutschen Philosophen Odo Marquart „Zukunft braucht Herkunft”111 speist sich ein tiefgründiges Verständnis der Gegenwart, also des modernen Französischunterrichts, aus einer profunden Kenntnis und Analyse der historischen Zusammenhängein ihrer diachronen Evolution. Deshalb soll abschließend mit der vorliegenden Arbeit auch gezeigt werden, dass heute gängige, verbreitete Konzepte und Unterrichtsformenbeim Einsatz von Musik im Französischunterricht keinesfalls Produkte des 21. Jahrhundertssind, sondern sich bereits in Ansätzen in der über 500-jährigen Geschichte des Fremdsprachenunterrichtsmanifestieren.112
I. Frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht vor der neusprachlichen Reformbewegung
I. 1 Musik im Unterricht der Antike
Der Musikeinsatzim Unterricht steht in einer sehr langen Traditionweit vor Beginn eines Fremdsprachenunterrichts.In der griechischen Frühzeit gab es eine bewusste Erziehung vorrangig für den Adel und für Knaben. Platon unterscheidet zwei Bereiche: die Gymnastik für den Körper und die Musik für die Seele.1 An erster Stelle stand die „Zucht“ des Körpers und der Seele zum gewandten Kämpfer, wobei der Körper auch durch Wettkämpfe, Spiele und Tanz2 trainiert wurde. Diesem „gymnastischen“ Element war das „musische“ Elementnachgeordnet, „die Bildung des ritterlichen Knaben durch Musik und Volkspoesie, durch die Weisheit der überlieferten Sagen […].“3 Musik, vor allem der Gesang,spielte auch eine Rolle in der Erziehung der Mädchenim Rahmen des Ideals der höfischen Gesellschaft, in der „der Frau als der hochgeachteten Hüterin aller edlen Sitten“4 eine spezielle Bedeutung zukam.
Als Leitfigur der antiken Erziehung gilt Homer, den Marrou auch als „Erzieher Griechenlands“ bezeichnet.5 Wie bei der homerischen Erziehung spielten Formen der Musik in der spartanischen Kultur eine entscheidende Rolle. Musik steht im Mittelpunkt der Kultur und sichert die Verbindung zwischen ihren verschiedenen Formen: „im Tanz reicht sie der Gymnastik die Hand, durch den Gesang trägt sie die Dichtung, die einzige archaische Form der Literatur.“6 Sparta war im 7. und zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. sogar die musikalische HauptstadtGriechenlands. Dort entstanden auch die beiden ersten Schulen der Musikgeschichte.7 In Sparta fanden musikalische Wettkämpfealler Art statt, die von jeweils zwei Chören, einem von Knaben und dem anderen von verheirateten Männern ausgestaltet wurden.8 Außer dem Chorgesangspielte die Militärmusikin der Antike die Rolle unserer heutigen Trompeten und Trommeln und gab den Rhythmusfür die gemeinsame Bewegung an. Marrou kommt zu dem Fazit, dass die gesamte antike Kultur und ihre Erziehung „mehr künstlerisch als wissenschaftlich [waren], und ihre Kunst war musikalisch,bevor sie literarisch und plastisch wurde. […] Derjenige, der (als Sänger und Tänzer zugleich) nicht in einem Chor seinen Platz ausfüllen kann, ist nicht wahrhaft erzogen.9“
Damit wird der Chorals gemeinstiftendesElement und dessen erzieherischeDimension hervorgehoben. Die musikalische Schulunghatte so eine moralischeund disziplinierendeKomponente, die dazu beitrugen, „die Jugendlichen zur ‚Selbstbeherrschung‘ zu erziehen, sie gesitteterzu machen, indem er [der Unterricht, A. R.] mit Eurhythmie und Harmonie ihre Seele erfüllte.“10 Chorgesangund Tanzgehörten auch zwingend zur Teilnahme von Schülern an Feierlichkeiten sowie Zeremonien; diese nahmen einen wichtigen Rang im Schulkalender ein, sie wurden amtlich festgelegt und ihr Besuch galt als „heilige Pflicht“.11 Gesang, Tanzund Poesiebildeten damit die Grundpfeilervon Lehre und Unterricht. Die jungen Athener lernten zwei Instrumente: Lyra und Oboe. Oft gab es neben dem eigentlichen Schulmeister, der das Schreiben und Lesen vermittelte, einen speziell bestellten Lehrer für das Lyraspiel und Musiktheorie.
Ein systematischer Fremdsprachenunterrichtspielte während der Antike eine eher untergeordnete Rolle, da in vielen wohlhabenden Familien die Erziehung ihrer Kinder durch Ammenund Sklavinnenerfolgte. Es handelt sich hierbei um einen Erstspracherwerbund einen begleitenden Muttersprachunterrichtin der griechischen Sprache. Marrou verweist auf die sorgfältige Auswahl der Kinderfrauen, „die Reinheit ihres sprachlichen Ausdrucks und ihrer Aussprache sollten dem Kind das Annehmen fehlerhafter Gewohnheiten ersparen, die man ihm später austreiben müßte.“12
Der (Erst-)Spracherwerbwurde beim griechischen Kind musikalisch vor allem durch Wiegenlieder, aber auch Ammengeschichten gefördert (Äsops Tierfabeln, Geschichten von Zauberinnen und Mythen). Obwohl die Ammen eine wichtige Erziehungs-und Lehrfunktionerfüllten, finden wir jedoch „kein Bemühen, all dies in einem regelrechten Unterricht zusammenzufassen.“13 Auch der folgende private Unterrichtist mit der Anwendung der Mutterspracheverbunden, in der Elementarschule war hierbei ein einfacher Sklave beauftragt, der das Kind bei seinen täglichen Gängen zur Schule und nach Hause begleitete.14 Der Elementarunterrichtbediente sich auch musischer Elemente. So nennt das griechische Kind zunächst die 24 Buchstaben beim Namen (Alpha, Beta, Gamma etc.), ohne die Zeichen vor Augen zu haben. Danach zeigt man den Kindern ein Alphabet aus Großbuchstaben, die in mehreren Spalten geordnet sind. Die Kinder sagen diese Liste her, nach Marrou in einem singenden Ton.15 Hierbei wird Musikals ein mnemotechnisches Hilfsmittelangewendet. Seit dem 5. Jahrhundert hatte man zu diesem Zweck ein Alphabet in vier Trimetern komponiert. Es handelt sich um den Vorläufer der Alphabetliederbzw. der heute gebräuchlichen grammar songs / chansons grammaticales. Außerdem wurden aus den Buchstaben des Alphabets Entsprechungen mit „kosmischen Elementen“ erstellt: Die sieben Vokale ordnete man den sieben Noten der Tonleiter und den sieben Engeln zu, die den sieben Planeten vorstehen.16 Mit der Lektüre eng verbunden war die Rezitation.Die Stücke wurden nicht nur gelesen,sondern auswendig gelernt.17 Marrou berichtet darüber, dass „wenigstens die Anfänger die Gewohnheit gehabt haben zu psalmodieren, indem sie Silbe für Silbe vor sich hersangen.“18
Die römische Erziehungsteht nicht nur in der Tradition der hellenistischen Erziehung, sie ist deren Fortsetzung, da Rom und Italien im Bereich der griechischen Kultur aufgingen. „Es gibt nicht hier eine hellenistische, dort eine lateinische Kultur, sondern […] nur eine ‚hellenistisch-römische‘ Kultur.“19 Der römische Adel ermöglichte seinen Söhnen eine allumfassende Bildungund das war für die Römer die griechische Ausbildung und Erziehung, die durch griechische Sklaven als Hauslehrererfolgte. Es handelt sich hierbei um eine Art kommunikativen Unterrichtmit dem griechischen Hauslehrer, um nicht nur die Aussprache, sondern die Kulturzu vertiefen. In den ersten Jahren lernte das römische Kind vom griechischen Hauslehrer oder der griechischen Amme griechisch zu sprechen, es handelt sich um eine Art direkte Methode . Latein wurde als weitere Erstsprache oder bisweilen auch erst als Zweitsprachevermittelt. Im Schulalterherrschte dann eine Diglossie-Situation. Das spiegelt sich in den zweisprachigen Schulbüchern zu Beginn des 3. Jahrhunderts, den Hermeneumata Pseudositheana 20 wider. Hierbei handelt es sich um ein praktisches Handbuchzum Erlernen von Vokabeln mit einer Art Interlinearversion,die sowohl von Griechen als auch von Lateinern benutzt werden konnte. Die Texte in Dialogformsind in zwei Spalten aufgeteilt, wobei der griechische (Original-) Text links stand und die lateinische Übersetzung auf der gegenüber liegenden Seite. Die Anwendung von Musik im Unterrichtwurde zurückgedrängt. Scipio Aemilianus spricht von Musik- und Tanzschulennur in einer Kritik der Jugendfür die „unanständige und schamlose Kunst,[…], die sich höchstens für Komödianten, aber nicht für Kinder von freier Geburt und erst recht nicht von senatorischem Rang schicke.“21 Somit kam es zu einer Abwertung des Einsatzes von Musik im Unterrichtan römischen Schulen, das Studium von Musikwurde nur noch bei den jungen Mädchenals unterhaltende Kunstakzeptiert.22 Die musikalischen Künstegehörten zwar als notwendiger Bestandteil des Luxusund des eleganten Lebenszur Bildung, Musikund Tanzwurden jedoch reduziert oder zumindest vernachlässigt.
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