1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Während sich Arendt in Massachusetts aufhielt, marschierte Hitler in der Sowjetunion ein und begannen die kontroversen Diskussionen in den USA über den Kriegseintritt, der dann im Dezember 1941 erfolgte. Blücher arbeitete als Forschungsassistent beim „Committee for National Morale“ und plädierte für den Kriegsbeitritt der USA. Später instruierte er amerikanische Offiziere über den Aufbau der deutschen und französischen Armee und gab schließlich Geschichtsunterricht für deutsche Kriegsgefangene. Arendt verdiente ihren Lebensunterhalt mit Zeitschriftenartikeln und einem Lehrauftrag über europäische Geschichte am Brooklyn-College. Vor allem aber kämpfte sie in ihrer Kolumne im Aufbau mit schneidender Schärfe für eine unabhängige und gleichberechtigte jüdische Politik der jüdischen Organisationen und ab 1943 bis zur Staatsgründung Israels gegen einen Nationalstaat und für eine jüdisch-arabische Föderation. Doch ohne jeden Erfolg. Es waren die Ergebnisse der Diskussionen in Paris, die sie hier zu politisch-programmatischen Forderungen erhob: für den Mut der Parias, für eine jüdische Armee, gegen die Weltfremdheit einer „Schnorrer- und Philanthropen-Internationale“ 23, gegen die verschiedenen Erscheinungsformen einer jüdischen Ausnahme durch Privilegien oder selbsternannte Auserwähltheit und gegen die Pläne, einen zionistischen Separatstaat zu gründen. „Der Versuch, nationale Konflikte zu lösen, indem man einerseits souveräne Staaten schafft und andererseits in Staatsgebilden, die sich aus verschiedenen Nationalitäten zusammensetzen, Minderheitenrechte gewährt, hat in unserer jüngsten Geschichte eine derart spektakuläre Niederlage erlitten, daß man eigentlich erwarten müßte, niemand käme auch nur auf den Gedanken, diesen Weg wieder einzuschlagen.“ 24Doch diese Bemühungen scheiterten vollkommen an den realpolitischen Interessen Englands, der USA und der zionistischen Organisationen.
Während dieser Zeit setzte Arendt ihre Studien zur jüdischen und europäischen Geschichte aus der Zeit in Paris fort und erweiterte sie im Lauf der folgenden Jahre unter dem Eindruck der für sie zunächst kaum zu glaubenden Nachrichten von der beginnenden Ermordung der Juden. Zwei weitere Themenbereiche sollten die Grundlagen des Totalitarismus beleuchten: das Zeitalter des Imperialismus und die Elemente der totalen Herrschaft. Alle drei Themen veröffentlichte sie als eine Analyse der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft im Jahr 1951.
Arendt begegnete in Amerika der Wirklichkeit einer anderen politischen Tradition, die ihren in Paris gewonnenen Einsichten über die politische Krise Europas nahekam und die sich nicht nur als Lösung der Krise der europäischen Nationalstaaten anzubieten schien, sondern auch die Hoffnung nährte, Teil einer Tradition zu sein, an der sich eine nachtotalitäre Politik orientieren könnte.
Diese republikanische Tradition erachtet Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit ohne jede weltanschauliche oder metaphysische Rechtfertigung als Grundlage des Gemeinwesens. Sie ermöglicht das Zusammenleben verschiedener Nationalitäten, weil Staat und Nation nicht miteinander identisch sind, weil die föderative Struktur keine Unterscheidung in Minderheiten und Mehrheiten kennt, weil die politische und rechtliche Gleichheit von der gesellschaftlichen und individuellen Verschiedenheit und Ungleichheit geschieden ist und das Recht durchgesetzt wird (das Recht, Rechte zu haben, ist dabei, wie Arendt in ihrem Kapitel über die Menschenrechte in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ausführt, die Voraussetzung jeglicher Existenzsicherung) und weil schließlich die Machtteilung die Republik in ihrem Bestand sichert. „Die Teilung der Gewalten“, notierte sie in ihr Denktagebuch, „als Teilung der Souveränität. Entscheidend hierfür ist nicht die Montesquieusche Formel von Exekutive, Legislative und Judiciary, sondern die unbekümmerte Aufteilung von Befugnissen zwischen Federal Government und Staaten.“ 25
Diese Realität mit dem Hintergrund einer verborgenen Tradition wurde für Arendt zum Katalysator für die Entwicklung ihrer eigenen politischen Theorie. Nach Abschluß ihres Buches über die totale Herrschaft wandte sie sich Montesquieu zu, mit dem sie zugleich die USA „las“ und ihre eigene politische Theorie weiterentwickelte. Über Monate hinweg trug sie „diese komischen Montesquieu-Reflexionen“ 26in ihr Denktagebuch und erwog, sie zur Grundlage eines längeren Textes zu machen, der aber nicht zustande kam. Die gleichzeitige Arbeit an den totalitären Elementen im Marxismus, an dem Phänomen der Pluralität in der Politik im Unterschied zur Philosophie und an den Fragen nach dem Neuen in der Politik und der Gründung der Freiheit ließ sie statt dessen an ein Buch in Form von drei Essays denken, in dem alles vereint wäre: „Staatsformen – Vita activa – Philosophie und Politik. Im 1. Polis, römische Republik etc. inklusive Montesquieu und Ableitung des Herrschaftsbegriffs. Auch Ideologie und Terror. – 2. Arbeiten, Animal laborans, Herstellen, Homo faber, Handeln. Moderne Gesellschaft als Arbeits- (und nicht Produktions-) Gesellschaft. 3. Philosophie und Politik. Inklusive ‚common sense‘ (Hobbes) und Geschichte als ‚Ersatz‘ der Polis.“ 27Daraus wurde dann aber das Buch über die menschlichen Tätigkeiten Vita activa oder Vom tätigen Leben und der kritische Vergleich der revolutionären Gründungen in Frankreich und Amerika in Über die Revolution . Auch das Spätwerk Vom Leben des Geistes findet hier seinen Ursprung. Übrig blieben Fragmente, die erst posthum unter dem Titel Was ist Politik? veröffentlicht wurden.
Mit der Lektüre von Montesquieu entwickelte Arendt eine politische Theorie dessen, was sie in ihrer Dissertation über den Liebesbegriff bei Augustin schon als vita socialis , als Erfahrungszusammenhang mit dem Nächsten beschrieben hatte. Jetzt ließ sie diesen Gedanken als politischen Kern der republikanischen Freiheit, als gemeinsame, zwischenmenschliche, quasi föderale und auf institutioneller Ebene föderative Freiheit wiederkehren. In der Art und Weise der Machtbildung und der Gesetzgebung kommt der ganze Unterschied zu den souveränen Nationalstaaten zutage: „Die zentrale Frage einer künftigen Politik wird immer wieder das Problem der Gesetzgebung sein,“ notierte sie. „Die Antwort des Nationalstaats war, daß Gesetze gibt, wer Souverän ist. […] Impliziert ist, daß Gesetze vom Willen abhängen und daß bestimmte Körperschaften oder Menschen mit der Macht zu wollen, für Andere zu wollen , ausgestattet sein müssen. […] Daß ich Macht haben muß, um wollen zu können, macht das Machtproblem zum zentralen politischen Faktum aller Politik, die auf Souveränität gründet – also aller mit Ausnahme der amerikanischen“. 28Anders das gewaltenteilige, föderative System, bei dem Macht „wieder ursprünglicherweise dadurch“ entsteht, „daß ‚in concert’ von mehreren [Gewalten, W.H.] gehandelt wird. Dadurch ist das eigentlich Destruktive der Macht, ihre Subjektivität, ausgeschaltet.“ 29
Dieses föderative Prinzip übertrug Arendt auf das Handeln als einem gemeinsamen Handeln, in dessen Dazwischen als einem Zusammenwirken Macht erst erzeugt und Welt im Sinne einer gemeinsamen Erfahrungswelt erst geschaffen wird. Die zweite ‚große Entdeckung‘, die sie von Montesquieu übernahm, war die Unterscheidung von Wesen und Prinzip einer Regierungsform, durch die sie erst zu einer historisch handelnden Körperschaft wird. Diese Entdeckung im Werk Montesquieus ermutigte sie zu dem Essay Ideologie und Terror: eine neue Staatsform , den sie der zweiten Auflage ihres Buches über die totale Herrschaft quasi als Krönung der ganzen Untersuchung anfügte.
Bei Machiavelli hatte Arendt den Schlüssel dafür gefunden, die philosophischen Grundlagen der Republik auf das Handeln selbst und die Freiheit auf die Verbindung von Pluralität und politischen Institutionen zurückzuführen. In ihrem Essay über die neue Staatsform verband sie Ideologie und Terror als Wesen und Prinzip der totalen Herrschaft mit der Erfahrung der Verlassenheit, und in Vita activa oder Vom Tätigen Leben und in Über die Revolution entwarf sie die Welt und die Institutionen des Handelns, von der aus sie solche Tätigkeiten und Institutionen kritisieren konnte, die diesen Zusammenhang auflösen und die Freiheit bedrohen. Kurt Blumenfeld kündigte sie diesen Essay mit den Worten an, „daß ich mit einem Bein bei Montesquieu gelandet bin und das andere wieder fest in meinem guten alten Augustin plaziert habe.“ 30Die Kontinuität ihres Denkens fand hier eine entscheidende Fortsetzung.
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