Viele Jahre später, als ich bereits als Tanzpsychologe arbeitete, machte ich ein Experiment, um herauszufinden, wie Nichttänzer den Contemporary Dance verarbeiten. Dabei fiel mir auf, dass zwischen ihren Schwierigkeiten, in dem Tanz irgendwie einen Sinn zu erkennen, und meinen Schwierigkeiten, Wortfolgen zu verarbeiten, eine Ähnlichkeit bestand. Das Experiment fand nach der „Sprechdenken“-Methode statt. Dabei werden die teilnehmenden Personen gebeten, während sie eine Aufgabe erfüllen – in diesem Fall also ein Tanzstück ansehen –, alles auszusprechen, was ihnen in den Sinn kommt. Die Leute redeten, und während sie sprachen, zeichnete ich diesen Bewusstseinsstrom auf. Ich stellte fest, dass einige Personen einfach beschrieben, was sie sahen, so als beobachteten sie eine Reihe sinnloser Figuren. Andere sprachen über die Unterschiede zwischen ihren eigenen Fähigkeiten und denen der Tänzerinnen und Tänzer. Wieder andere versuchten, dem, was sie sahen, einen Sinn zu geben, indem sie ein Narrativ erfanden. Wenn aber die Bewegungen nicht zu diesem Narrativ passten, änderten sie die Geschichte. Wenn die Teilnehmenden verschiedene potenzielle Narrative ausprobiert hatten, die alle nicht funktionierten, gaben sie manchmal auf und sagten, sie hätten keine Ahnung, worum es in dem Stück ginge. Klar war, dass es „die eine“ oder gar „die richtige“ Lesart für den Tanz nicht gab, und dass Menschen, die nicht tanzen, ebenso große Schwierigkeiten haben, Bewegungsfolgen zu verstehen, wie Menschen, die schlecht lesen können, mit dem Verständnis von Wortfolgen.
Ab dem Spätherbst, zu Beginn der Weihnachtsrevue-Saison war mir klar, dass sich etwas änderte. Dass ich angefangen hatte zu lesen, hatte mir mehr Selbstvertrauen gegeben und meine Sicht der Welt verändert. Tanzen war für mich immer etwas ganz Selbstverständliches gewesen. Ich dachte, es sei leicht. Jemand zeigte mir eine Abfolge von Tanzbewegungen, und ich merkte sie mir. Mein Körper verfügte anscheinend über ein Gedächtnis für Bewegungsmuster, und ich konnte fließend von einer Figur zur nächsten übergehen. Jetzt sah ich das Tanzen anders. Mir wurde bewusst, dass Tänzerinnen und Tänzer etwas Außergewöhnliches leisten: Bewegungsmuster auswendig zu lernen und sich lange Bewegungsfolgen zu merken, ist keine Kleinigkeit. Außerdem wurde mir klar, dass die geistigen Anforderungen beim Tanzen viel höher sind als bei anderen darstellenden Künsten.
Tänzerinnen und Tänzer müssen Tausende feinster Veränderungen der Körperposition lernen, und zwar einfach, indem sie zuschauen, wie jemand diese Bewegungen vormacht. Sie schreiben diese Bewegungen nicht auf, und sie erhalten auch kein Buch, in dem die Bewegungen aller Tanzenden aufgeschrieben sind. Stellen Sie sich vor, Schauspieler oder Sängerinnen müssten ihre Rolle so lernen! Wenn Tänzerinnen und Tänzer nach den Proben nach Hause gehen, müssen sie üben, aber sie haben nichts, was sie an die Tanzbewegungen erinnert, außer der Musik und ihrem fantastischen Gedächtnis.
Sobald mir bewusstwurde, dass ich imstande war, im Laufe meines Lebens als professioneller Tänzer tausende Stunden komplizierter Bewegungsmuster zu erlernen und zu verstehen, wurde mir auch klar, dass ich diese Fähigkeit auch auf das Erlernen von Informationen, die in schriftlicher Form vorliegen, übertragen können müsste. So würde ich mehr über Zeitgeschehen, Literatur und Wissenschaft erfahren. Ich brauchte einfach nur einen Einstieg, und dieser Einstieg war der Tanz. Als die Weihnachtsrevue-Saison Ende Januar zu Ende ging, ließ ich mein Leben in London hinter mir und schlug neue Wege ein. An Qualifikationen hatte ich nichts außer einem Schulabbrecherzeugnis mit guten Noten in Schauspiel und einem Diplom der Guildford School of Acting. Wenn wir eine lebensverändernde Entscheidung treffen wollen, müssen wir manchmal unsere Alltagsgewohnheiten verändern und in eine neue Umgebung ziehen. Ich kaufte ein Flugticket nach Kanada und nahm den Zug von Montreal nach Vancouver. Auf der ganzen, fast fünftausend Kilometer langen Strecke las ich Lyrik. Die schaukelnden Bewegungen des Zuges stellten eine körperliche Verbindung zu den Worten auf der Buchseite her. Rhythmus und Rumpeln wurden zu einem Soundtrack, der Worte in Liedtexte verwandelte. Mich selbst lesen zu hören, war wie selbstgemachter Rap, und dies trieb mich zur Bewegung, sodass Wörter süchtig machten. Auch heute noch kann ich kaum stillsitzen, wenn ich „O Käpt’n! Mein Käpt’n!“ von Walt Whitman lese. Das Gedicht verlangt Bewegung, und manchmal sogar ein doppeltes Händeklatschen am Ende der zweiten Zeile: „O Käpt’n! Mein Käpt’n! zu Ende unsre schlimme Reise, Die Wolkendünste abgewettert, hielten siegreich wir die Preise“ 1[Klatsch-Klatsch]
Vorbei an Herden nickender Esel und quer durch die Rocky Mountains lernte ich, dass Information eine andere Beschaffenheit erhält, sobald wir uns dazu bewegen. Es ist wie beim Gehen auf Sand, Stein oder Gras. Wenn wir den Boden unter unseren Füßen spüren, anstatt bloß seine Oberfläche zu betrachten, entdecken wir neue Eigenschaften in ihm – und ich finde, bei Wörtern ist es genauso. Wenn sie still auf der Buchseite herumliegen, wirken sie ziemlich nichtssagend, aber wenn ich mich zu ihnen bewege, verändert sich unsere Beziehung. Ich fühle sie aus anderer Perspektive, und während einige mir genauso viel Freude machen, wie wenn ich auf einem frisch gemähten Rasen liege, fordern andere mich dazu heraus, mein Gleichgewicht zu halten, als ginge ich über einen Felsenstrand. Diese Zugfahrt hat mir beigebracht, mit Wörtern zu tanzen.
Einige Monate später kaufte ich mir Anna Karenina von Tolstoi (in englischer Übersetzung, versteht sich). Beim Lesen verliebte ich mich zum ersten Mal in eine Figur, die ich nur durch das geschriebene Wort kennengelernt hatte. Ich verliebte mich in Kitty. Ich konnte gar nicht mehr aufhören, von ihr zu lesen. Als das Buch zu Ende war, machte ich mir Sorgen um sie. Voller Vorfreude hatte ich stets gehofft, dass sie auf der nächsten Seite auftauchen würde; ich war eifersüchtig auf ihren Mann Levin gewesen – und ich spürte die schmerzliche Aussichtslosigkeit einer unerwiderten Liebe. Ich konnte absolut gar nichts tun, um Kitty auf mich aufmerksam zu machen. Ich beendete das Buch mit gebrochenem Herzen, als ein anderer Mensch. Ich las Auferstehung und ging dann zu Turgenew und Dostojewski über. Meine Ausgabe von The Great Short Works of Fyodor Dostoevsky habe ich heute, über dreißig Jahre danach, immer noch. Als Vorbesitzerin ist eine Harvard-Studentin namens Kelly eingetragen. Dieser schlichte Eintrag wurde mir zu einem weiteren Wegweiser und bestärkte mich in dem Glauben, dass diese Bücher mich noch in die heiligen Hallen von Oxbridge führen würden, wo ich mir eines Tages mein Cordjackett mit den Ellenbogenflicken verdienen würde. Ich war wie ein Ozeanriese: Wenn ich erst einmal angefangen hatte, fuhr ich einfach immer weiter, langsam aber stetig von einem großartigen Buch zum nächsten.
In der realen Welt war es schwieriger, an die Universität zu kommen, als ich gedacht hatte. Ich beschloss, Psychologie zu studieren. Ich dachte, ich könnte dies mit Theater und Tanz kombinieren und vielleicht eine Ausbildung zum Theater- und Dramatherapeuten oder zum Tanztherapeuten machen und die kreativen Künste nutzen, um den Menschen zu helfen. Ich kaufte und las Bücher von Freud und Jung und las Fallstudien wie zum Beispiel Dibs: Ein kleiner Junge befreit sich aus seinem seelischen Gefängnis, Zu der Angst kommt die Scham und Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Aber keines dieser Bücher bot mir Erklärungen für die Fragen, die ich zu dem Thema hatte. Zugleich fragte ich bei den psychologischen Fakultäten einiger Universitäten an, ob sie mich zum Studium zulassen würden. Ich hatte keine Ahnung, wie man sich an einer Uni bewirbt, erfuhr aber, dass ich dazu mindestens in einem Fach ein A-Level ablegen musste.
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