Maja Peter - Nochmal tanzen

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Alice hat ihre Tanzschule verkauft und sich in Pension geschickt. Sie verbringt ihre Tage mit Haushalt und Kaffeekränzchen und tauscht Mails mit ihrem ehemaligen Tanzpartner, der jetzt in Thailand lebt. Sie sitzt am Küchentisch und zeichnet, während ihr ein unbekannter «Alexander» übers Radio Musikwünsche erfüllt. Soll sie ihn anschreiben?
Die Gymnasiastin Fleur steht vor der Berufswahl. Ihre Eltern sind getrennt, Mutter sucht eine neue Arbeit, Vater hat keine Zeit. Da lernt sie im Zug Alice kennen, die zu ihrem ersten Rendezvous mit Alexander fährt. Sie freunden sich an, Fleurs und Alice' Leben beginnen sich langsam zu ändern.
Lebendig und subtil zugleich erzählt Maja Peter vom Zusammenspannen zweier Generationen, vom Jungsein und Älterwerden, von Verlassenheit und Sehnsucht und von ganz weltlichen Wundern, für die nicht Heilige sorgen.

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Foto Patrik Marcet Maja Peter geboren 1969 in Zürich Ausbildung zur Tänzerin - фото 1

Foto Patrik Marcet

Maja Peter, geboren 1969 in Zürich, Ausbildung zur Tänzerin am Opernhaus Zürich und Studium der Kulturtheorie an der Zürcher Hochschule der Künste. Arbeitete als Journalistin, Redaktorin und Dramaturgin (Theater Neumarkt Zürich). 2011 erschien ihr erster Roman «Eine Andere», für den sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Maja Peter lebt in Zürich und Bern.

MAJA PETER

NOCHMAL TANZEN

ROMAN

1

Gehört der Po zum Bein oder zum Rumpf? Alice legt den Zeichenstift ab, steht vom Küchentisch auf und stellt sich mit dem Rücken vor den Spiegel im Flur. Sie schafft es nicht, über die Schulter zu schauen. Früher konnte sie das. Sie streckt ein Bein nach hinten und dreht den Kopf so stark sie kann. Die Augen reichen noch immer nicht weit genug, dafür schmerzt der Nacken. Sie hätte es wissen müssen.

Am Radio verstummt die Königin der Nacht, ein Dreivierteltakt setzt ein. Walzer gibt Schwung fürs Leben, hatte Alice früher zu ihren Schülerinnen und Schülern gesagt. Sie hebt die Arme, als würde jemand sie umfangen, macht Wiegeschritte. Rechts, links, rechts. Links, rechts, links. Geht das einmal nicht mehr, mag sie nicht mehr leben. Gibt es einen Tanz, der Schwung gibt zum Sterben?

Die Musik schwillt an, Alice schwingt mit. Der Walzer könnte der Wunsch dieses Alexanders sein. Dass er sich ihren Namen gemerkt hat. Wie sagte er noch? «Sie haben letzte Woche für Alice Maag eine Polka gespielt. Die hat mir so gut gefallen, dass ich sie noch einmal hören möchte.»

Ein Mann mit den gleichen Vorlieben. Einer, der sie nicht aus Gefälligkeit ins Konzert begleitet. Nicht wie Fritz, den klassische Musik langweilte. Kaum setzte das Orchester ein, drehte er sich nach den Zuschauerinnen und Zuschauern um, wechselte die Sitzposition, massierte sich die Hände. Alice geht wiegenden Schrittes in die Küche, stellt das Radio lauter. Trotzdem glaubte sie sich glücklich mit Fritz. Es war nicht seine Schuld, dass ihr das nicht genügte. Sie setzt sich, zeichnet der Tangotänzerin einen Rock, der Po und Beine bedeckt.

«Die Hörerin Alice Maag hat sich vor kurzem einen Walzer von Prokofjew gewünscht. Ich hoffe, ihr gefällt auch der aus dem Rosenkavalier.»

Alexander. Sie muss ihn kennenlernen. Sie könnte die Wunschkonzert-Moderatorin bitten, ihm einen Brief weiterzuleiten. Einem Fremden einen Brief schicken. Was soll sie schreiben? Ich habe mir immer einen Mann mit dem gleichen Musikgeschmack gewünscht. Ich bin neugierig, wie Sie aussehen. Oder: Da muss noch etwas kommen? Martin wüsste Rat. Sie sieht auf die Uhr. In Thailand ist es abends um neun, er wird noch wach sein.

What’s love got to do with it schallt zu Fleur hinauf. Sie schließt das Fenster. Lieber ersticken. An ihren Kleidern, im Bettzeug, in ihren Haaren klebt Kuchengeruch.

«Komm doch auch», sagte Mutter, bevor sie die Kuchen fürs Hoffest hinunterbrachte. «Babs hat sich angemeldet, die hast du doch immer gemocht.»

«Ich habe zu tun», sagte Fleur. Mutter sah sie an, als wollte sie etwas sagen. Sie sah sie oft so an.

Der Song durchdringt Wände und Glas. Das ist nicht ihre Musik, nicht ihr Fest. Im Hof sitzen die Nachbarn an langen Tischen, essen und tratschen. Bla, bla, bla. Während ein paar Flugstunden entfernt ein Präsident sein Volk bombardiert, tauschen die Belanglosigkeiten aus. Hartmanns prosten sich mit Bierflaschen zu, Frau Clerici isst Kuchen. Vollgestopfte Fröhlichkeit. Die würden sogar lachen, wenn Fleur einen mit Wasser gefüllten Ballon hinunterschmeißen würde, wie sie das früher mit Babs getan hatte, wenn die Buben im Hof spielten.

Aus dem Lautsprecher plärrt Who needs a heart when a heart can be broken. Sie hält sich die Ohren zu. Raus, zum Wehr, wo der Fluss Ohren und Augen füllt. Wo sie Ruhe hat. Sie zieht eine Jacke an. Auf dem Weg zum Wehr würde sie den Nachbarn begegnen, müsste ihr «Setz dich zu uns» abwehren. Hartmanns, die ihr noch immer Floriana sagen, obwohl sie sich schon lange Fleur nennt. Frau Clerici, die sie im Treppenhaus fragt, wie es in der Schule laufe und was sie nach der Matur mache. Sie erwartet Vorfreude, Abenteuerlust. «Die Welt steht dir offen», sagt sie, «genieß es.» Wie soll sie genießen, wenn sie kein Geld hat. Wie Geld verdienen, wenn sie nicht weiß, wie Arbeiten geht. In die Welt hinaus. Sie wird schon nervös, wenn sie an einen unbekannten Ort in der Stadt fahren muss. Natürlich kann sie es kaum erwarten, die Schule los zu sein und nicht mehr wie ein Kind behandelt zu werden. Aber dann? «Mit einem Geschichts- oder Sprachstudium bist du nicht gefragt auf dem Arbeitsmarkt», sagt Mutter. Informatik, Physik und Chemie interessieren sie nicht. Das Einzige, was sie gut kann, ist fotografieren, aber das zählt nicht. Und sie weiß, was sie nicht will: für die Tabak- und die Pharmaindustrie arbeiten, in einer Bank, in einer Versicherung. Auch mit Waffen, Atomkraft und Gentechnologie will sie nichts zu tun haben. Sie zieht die Jacke aus, setzt sich vor dem Bett zu Boden.

See that girl, watch that scene, auch das noch, ABBAS Dancing Queen. Babs und Cindy hörten während der Primarschulzeit eine Weile nichts anderes. In den Pausen diskutierten sie, ob Agnetha oder Anni-Frid hübscher sei, dabei gab es die Band schon lange nicht mehr. Fleur ist rothaarig, also weder Anni-Frid noch Agnetha, und sie schwärmte damals für die Lieder Mani Matters, in denen Kater Ferdinand um Liebe wirbt und ein Tram auf dem letzten Kurs statt ins Depot in den Himmel fährt. Endlich verstummt die Musik. Die Nachbarn rufen «The winner takes it all». Zum Glück ist sie nicht unten. Erwachsene, die sich gehen lassen.

Am Fuß ihrer Holztruhe liegt abgeblätterte Farbe. Sie sollte das Möbelstück frisch streichen. In den Sportferien, in denen sie Zeit gehabt hätte, schlief sie, las einen Krimi, zu mehr reichte es nicht. Als die Klassenkameraden in der Stadt eine Party veranstalteten, ging sie nicht hin. Wer tanzt mit wem, wer küsst wen, wer ist wie angezogen, wer trinkt wie viel. Alle sind aufgekratzt, einige kotzen. Und danach im Nachtbus von älteren Männern angequatscht werden und im Dunkeln nach Hause gehen. Lieber ist sie alleine.

ABBA singt in voller Lautstärke The winner takes it all. Sie stopft Wachs in die Ohren. Die Gewinner sind weit weg. Wäre sie doch auch weit weg. Vom Schrank schauen der Bär und der Elefant auf sie hinab, vom Büchergestell die Puppen. Tobias ist umgekippt, von Julias Strampelhose zu Claudias Haar zieht ein Spinnfaden. Früher konnte Claudia alles. Das Einmaleins, lesen, den Spagat, den Salto, und in ihrem Haar hielt das Krönchen ohne Gummiband. Tobias war ihr Prinz. Fleur steht auf und setzt ihn gerade hin.

Auch auf den Kinderbüchern liegt Staub. Sie fährt mit dem Finger darüber. Der Elefant wächst in der Stadt auf. Elisabeth wird geheilt. Das kleine Gespenst braucht keinen Schlüssel, um ins Zimmer zu schlüpfen. Das Zimmer. Sie kennt jeden Winkel, die Unterseiten von Bett und Pult, die Astlöcher in der Dachschräge über dem Bett.

Alice hört Gejohle, als der Hörer abgehoben wird. «Hallo Martin, bist du es?»

«Alice! Warte», die Stimmen im Hintergrund werden leiser. «Verzeih, ich schaue einen Boxkampf am Fernseher. Wie geht es dir?»

«Ich brauche deinen Rat.»

«Worum geht es?»

«Dieser Mann aus dem Radio. Ich möchte ihn kennenlernen. Was soll ich ihm schreiben?»

«Sehr geehrter Herr Soundso, ich möchte Sie kennenlernen.»

«Das geht nicht.»

«Warum?»

«Ich will mich nicht lächerlich machen.»

«Was ist daran lächerlich? Er sagt auch, dass er sich für deine Musik interessiert.»

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