Fleur geht an Bankreihen vorbei zur Marienkapelle, vor der Kerzen brennen. Maria trägt ein besticktes, erdbeerrotes Kleid und ist mit Goldschmuck behängt wie eine Königin. Das Jesuskind sitzt aufrecht auf ihrem Arm. Fleur fotografiert die Statue. Neben ihr bekreuzigen sich zwei Tamilinnen, legen einen Umschlag nieder. Einen Brief? Eine Spende? Stünde Sarah neben ihr und wäre sie wie früher, flüsterte Fleur ihr zu: «Mit dem Geld geht Maria shoppen.»
Im Augenwinkel sieht sie, dass Lehrer Minder sie zu einer Wand voller Bildtafeln winkt. Ihre Schuhsohlen quietschen, als sie zu ihm eilt. Vor der Wand lacht sie auf. Auf fast allen Bildern ist Maria wie von Kinderhand gemalt zu sehen. Einmal thront sie auf einer Wolke über einer kurvigen Landstraße, auf der ein Auto mit einem Traktor zusammengekracht ist. Auf einem anderen Bild steht sie am Himmel über einem Mühlerad. In Schnörkelschrift steht darunter: «Madonna hat geholfen.» Der Geschichtslehrer erklärt, die Votivtafeln seien Teil eines Handels. Der Gläubige verspreche Maria unter der Bedingung, dass sie ihm aus der Patsche helfe, ein Bild in der Wallfahrtskirche und einen Eintrag ins Mirakelbuch. «Votiv kommt vom lateinischen votum, Gelübde. Hier», Minder deutet auf eine Frau, der ein Arzt den Bauch aufschneidet, «bat ein Mann darum, dass seine Frau nach der Operation wieder gesund werde. Zum Dank verlobte er sich mit Maria.» Minder dreht sich zur Wand. «Wie ihr seht, ist Maria nicht auf allen Tafeln abgebildet. Das Gelöbnis im Text richtet sich jedoch immer an sie.» Cleophea fragt, ob die Gläubigen das Bild selbst gemalt haben. Minder schüttelt den Kopf. Sogenannte Freiluftmaler hätten sie im Auftrag und auf Bezahlung der Bittsteller gemacht. «Natürlich mussten sie den Kirchenhäuptern genehm sein. Offensichtlich mochten sie naive Malerei.»
Fleur tritt näher heran. Maria heilt für ein Bild – und nicht einmal für ein besonders gutes. Das Pferd, das auf offenem Feld scheut, hält den Kopf unnatürlich. Der Bauer hinter ihm ist besser getroffen. Auf einer anderen Tafel stürzt ein Mann kopfvoran von einem Baugerüst. Im Hintergrund rauchen Industriekamine. «Madonna ist mir beigestanden.» Fleurs Augen gleiten von Tafel zu Tafel. Eine Wand voller überlebter Unfälle, überwundener Krankheiten, gerettetem Vieh. Sie hebt die Hand. «Was ist mit den Bitten, die nicht erhört wurden?» Minder lächelt. «Gute Frage. Man könnte Wunderbücher und Votivtafeln als Werbung für Wallfahrten bezeichnen. Enttäuschungen haben da keinen Platz.» Als das Kichern verstummt, fügt er hinzu: «Die Hoffnung zu nähren, bedeutet Macht zu haben. Die Kirche ist nicht das einzige Gesellschaftssystem, das darauf baut.» Minder zieht Luft zwischen den Zähnen hindurch. «Die Verfechter einer uneingeschränkten Marktwirtschaft, die behaupten, dass alle, die hart arbeiten, Erfolg haben können, setzen auch darauf. Menschen arbeiten härter in der Hoffnung, belohnt zu werden, und akzeptieren Hierarchien – weil man ohne Hierarchie nicht nach oben kommen kann.» Er streicht die Haare über die Glatze und deutet mit dem Kopf zur Wand. «Wissen Sie, warum die Bittsteller hier nicht zu Gott, sondern zu Maria beten?» Niemand antwortet. «Weil ihr Wort beim Allmächtigen Gewicht hat. In einem Pilgerbuch aus dem achtzehnten Jahrhundert steht, ihre Fürbitte wirke schneller als der direkte Anruf an Gott.»
«Predigt beendet», sagt Michael laut.
«Noch nicht.» Minder verschränkt die Arme. «Wer nicht hofft, gibt auf.»
«Amen», sagt Michael.
Fleur nimmt ihren Papierblock aus der Jackentasche und macht sich Notizen. Wer waren die Freiluftmaler, die von den Hoffnungen der Gläubigen lebten? Sie schaut auf. Minder ist nicht mehr in Hörweite. Sie notiert «von der Hoffnung leben» und betrachtet die Bilder erneut. Der Sturz vom Baugerüst kann noch nicht alt sein. Man hätte den Unfall fotografieren können, statt ihn zu malen. Fleur überlegt, wie Votivfotografien aussehen würden. Vorher-Nachher-Aufnahmen, dazu ein Spruch. «Mit Madonnas Hilfe konnte ich den Brustkrebs besiegen.» Oder «Dank Maria habe ich zwanzig Kilo abgenommen.»
Nach einem letzten Blick auf die Tafeln schlendert sie am Kerzentisch vorbei Richtung Ausgang. In einer Nische klebt ein Blatt Papier an der Wand. Sie tritt näher. Ein handschriftlicher Brief, datiert vom Vortag:
Lieber Gott
Wie zeigst Du Dich? Wie erkenne ich Dich? Wie kann ich Dich vernehmen? Ich benötige Deine Hilfe. Jeden Morgen suche ich nach einem Grund, aufzustehen. Ich bete ein Vaterunser, höre den Vögeln zu, betrachte das Licht, das sich durch die Ritzen der Rollläden presst. Kein Zeichen von Dir. Ich überlege, was mir den Tag möglich machen könnte. Kaffee, Lesen, Arbeiten, Sport. Er wird nicht möglich.
Wie muss ich Dein Schweigen verstehen? Bist Du nicht da oder erkenne ich Dich nicht? Bestrafst Du mich mit meinem Leben? Wofür?
Heute Morgen kam mir der Gedanke, dass ich Dir hier, im Kloster, begegnen könnte. Ich stand auf, kam her, bekreuzigte mich, kniete nieder. Demütig betete ich. Bat um Hilfe. Auch eine Kerze zündete ich an. Ich wartete auf Dich. Vergeblich. Warum? Verzeih Gott, ich kann nicht mehr. M. S.
Fleur streicht mit der Hand über das Papier. Gestern stand M.S. hier, hielt sich am Bleistift fest und schrieb. Hat er oder sie sich danach umgebracht? Was für ein Gott. Eilig verlässt sie die Kirche. Auf dem Klosterplatz reiht sich Stand an Stand mit religiösem Krimskrams. Kerzen, Postkarten, Ansteckknöpfe und Schlüsselanhänger mit Madonna in verschiedenen Gewändern darauf. Was für eine Welt. Maria an einem Schlüsselbund in der Hosentasche. Hat M.S. einen gekauft?
Erst ist die Kaffeetasse umgekippt, dann die Zahnbürste zu Boden gefallen, und jetzt verschmiert die Mascara. «Verflixt. Nimm dich zusammen», flucht Alice. Alexander bringt alles durcheinander. Er spaziert mit ihr das Seeufer entlang, reicht ihr im Foyer des Konzerthauses den Arm. Als er auf ihrem Sofa hockt, scheucht sie ihn weg. Sie will ihn nicht fragen, was sie kochen soll oder welches Fernsehprogramm er einschalten möchte. Sie ertrüge es nicht, den ganzen Tag jemanden um sich zu haben.
Sie tritt auf den Balkon hinaus. Wie warm es geworden ist. Mit geschlossenen Augen hält sie das Gesicht in die Sonne. Wieder die Seepromenade, das Foyer. Sie seufzt. Es wird keinen Spaziergang, keinen gemeinsamen Konzertbesuch geben. Mach dir keine Hoffnungen. Wenn nicht mit Alexander, dann vielleicht mit jemand anderem. Vergiss es. Nie mehr?
Sie öffnet die Augen. Gut möglich. Wahrscheinlich. Sie zieht einen Stuhl heran, setzt sich. «Konzentrier dich auf den Moment», riet sie Schülerinnen, die aus dem Takt fielen, weil sie den nächsten Schritt schon im Kopf hatten. Oder, wenn sich ein Schüler verhedderte: «Denk nicht so viel, hör auf die Musik.»
Sie blickt auf die Straße hinunter. Die Passanten haben Mäntel und Stiefel abgelegt und staksen durch die laue Luft, als entdeckten sie eben ihren Körper. Der Frühling macht sie zu Anfängern. Die Nicht-Ausrutschen- und die Armean-den-Körper-Schritte des Winters taugen nicht mehr, die neuen sind noch ungewohnt. Knöchel wackeln über Absätzen, Träger rutschen von Schultern, Unterhosen werden zurechtgezupft, und die Gesichter sind statt auf den Boden gegen den Himmel gerichtet. Die winterliche Steife ist weg. Weggeblasen vom Aufatmen.
Eine Frau direkt unter ihr trägt über weißen Leggins ein weißes Oberteil. Es reicht ihr knapp über den Po. Hat ihr niemand gesagt, wie erbarmungslos weiß ist? Alice bekam im Tanzkurs zu hören, Weiß stelle jede Delle aus, sei «nicht vorteilhaft». Auch leichtfüßiges Gehen brachte ihr der Lehrer bei. Damals fühlte sie sich zum ersten Mal elegant. Wie lange das her ist.
Sie streckt die Beine, massiert die Knie. Mit dem Verkauf des Balleros ist ihr der Körper abhandengekommen. Beim Turnen fühlt sie sich nie ganz. Da ist rechte Hüfte, linke Hüfte, Arm, Oberschenkel, Unterschenkel, unterer Bauch, schräger Bauch, Kreuz, Brust, Schulter, Nacken. Sie beugt Osteoporose vor, turnt gegen Übergewicht, Stürze, Gleichgewichtsstörungen. Sie balanciert auf einem Bein, rollt vom Bauch auf den Rücken, kreist mit den Armen. Zur Stärkung der Füße lässt die Turnlehrerin sie mit den Zehen Tülltüchlein vom Boden aufheben. Wie damals, im Kindergarten.
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