Nach einer kurzen Atempause setzte er seinen Weg fort, der ihn zum letzten Haus der kleinen Ortschaft führte, ehe die Straße hinter dem Hügel verschwand. Lynette und Marc hatten es nach ihrer Hochzeit von einem Witwer gekauft, dessen Sohn an der Ostküste in Edinburgh lebte und der seinen Vater hatte zu sich holen wollen. Recht war es dem alten Mann nicht gewesen, auf seine alten Tage noch einmal verpflanzt zu werden, aber er hatte sich gefügt und ein Haus voller Erinnerungen zurückgelassen.
Tom sah die erleuchteten Fenster im Erd- und Obergeschoss und vermutete, dass alle noch wach waren. Er bemerkte, wie sich ein Lächeln auf seine Lippen stahl und die Vorfreude auf das Wiedersehen ihn antrieb. Mit seinem Koffer im Schlepptau bog Tom schließlich am Schild, das auf mietbare Zimmer mit Frühstück hinwies, in die geschotterte Einfahrt ab und nahm im Vorbeigehen wahr, dass daneben auf dem kleinen Rasenstück eingeschweißte Paletten standen. Während Tom auf die Haustür zuhielt, nahm er die kantigen Gebilde in Augenschein und glaubte, Säcke und Holzlattengebinde zu erkennen.
Seine Schwester hatte nichts von einem Umbau erwähnt, aber im Moment gab es Wichtigeres, als sich darüber Gedanken zu machen. Sein Herz hüpfte. In der Hoffnung, Lynette, seinen Schwager Marc oder eines der Mädchen zu entdecken, ließ Tom seinen Blick schweifen, suchte in den Fenstern nach ihnen und blieb kurz darauf vor der Eingangstür stehen. Eilig stellte er seinen Rucksack auf den Boden, öffnete den Reißverschluss und zog das Teddybärchen, das er für die jüngste seiner Nichten mitgebracht hatte, gerade so weit hoch, dass der Kopf herausragte. Tom betätigte beherzt den Türklopfer, dessen Ring aus zwei metallenen Disteln bestand. Lächelnd hielt er den Atem an und lauschte. Im Haus schien einiges in Bewegung zu kommen. Stimmen wurden lauter und das Getrappel kleiner Kinderfüße näherte sich.
»Ja?«
»Ich bin’s … Tom«, antwortete er. Das Lachen seiner Schwester erklang, als sie die Kinder nachsichtig ermahnte, wegzugehen, damit sie öffnen konnte. Ungeduldig trat Tom von einem Bein auf das andere. Endlich schwang die Tür auf und Lynette stand vor ihm. Sie strahlte bis über beide Ohren, breitete die Arme aus und zog Tom noch auf der Schwelle stürmisch an sich.
»Hey Großer!«, begrüßte sie ihren jüngeren Bruder freudig.
»Hallo Lynnie!«, flüsterte Tom in ihre braune Lockenmähne und atmete den vertrauten Geruch von Vanille ein, der mit ihr aus der Wohnung wehte. Es tat gut, sie nach langer Zeit wieder in den Armen zu halten. Sie strich über Toms Rücken, umrahmte schließlich sein Gesicht mit beiden Händen und sah zu ihm auf.
»Schön, dass du Urlaub bekommen hast und endlich da bist«, flüsterte Lynette. Tom bekam ein schlechtes Gewissen. Es war kein Urlaub, es war eher eine Flucht.
»Ja, wurde endlich mal wieder Zeit, nicht wahr?« Tom zwinkerte ihr zu. Er umarmte sie fest, hob sie hoch und ließ sie erst nach unten rutschen, als sie anfing zu kreischen und ihn kichernd in die Rippen puffte. Dann wandte er sich lachend seinen Nichten zu, die wie die Orgelpfeifen hinter ihrer Mutter standen und das Begrüßungsspektakel zwischen ihr und ihrem Onkel mit großen Augen verfolgt hatten.
»Na, ihr drei?« Sobald Tom in die Knie ging, steigerte sich das Leuchten auf ihren Gesichtern. Die zwei älteren Mädchen stürmten auf ihn zu und warfen sich derart heftig in seine Arme, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Sofort hüllte ihn der süßliche Duft von Kindershampoo ein. Die Mädchen waren wohl frisch gebadet und in kuschelige Jogginganzüge gesteckt worden.
»Tommy!« Die zehnjährige Cate schlang ihre Arme fest um seinen Hals und drückte ihn. Sie war die Mutigste und Vorwitzigste. Ihr blondes Haar kitzelte an seiner Nase, während sie vor Aufregung hüpfte. Jedes Mal, wenn er seine Nichte sah, fiel ihm auf, wie sehr sie sich durch ihren hellen Teint von den übrigen Mitgliedern ihrer Familie unterschied. Marc, ihr Vater, machte hin und wieder Scherze darüber, dass sie wohl nach der Geburt einfach vertauscht worden wäre. Wobei Tom sicher war, dass sein Schwager Cate nicht einmal dann hergeben würde, wenn dies tatsächlich der Fall sein sollte. Marc liebte alle seine Kinder abgöttisch.
Susan war sieben Jahre alt und als mittleres der drei Mädchen vereinte sie gleichwohl Charaktereigenschaften von Cate und dem zurückhaltenden Nesthäkchen Anny in sich. Sie lächelte selig und ließ sich von ihrer großen Schwester nicht dabei stören, sich an ihren Onkel zu kuscheln.
»Ich habe euch so vermisst«, murmelte Tom und wiegte die Mädchen hin und her. Nach einer Weile lösten sie sich von ihm, stellten sich zu beiden Seiten neben ihn und machten den Weg frei für Anny, die mit ihren vier Jahren die Jüngste und auch die Schüchternste war. Die Kleine hielt Abstand, wie immer, wenn Tom eine Weile nicht bei ihnen gewesen war. Aufmerksam beobachtete sie die beiden anderen, schmiegte sich jedoch im Moment noch an das Bein ihrer Mutter, die ihr ermutigend über das rotbraune Haar strich.
Tom schenkte ihr sein gewinnendstes Lächeln und winkte ihr zu, ohne den Abstand zu verringern. »Hallo Anny.«
Cate streckte einladend eine Hand aus. »Komm schon, Anny. Begrüße Tom«, redete sie aufmunternd auf die Kleine ein, doch die schien etwas viel Interessanteres als ihren Onkel entdeckt zu haben. Der Blick aus ihren grünen Augen flog zwischen Tom und dem Rucksack, der am Türrahmen lehnte, hin und her.
»Ich sehe schon«, ging Tom darauf ein, als er es bemerkte. »Du hast den Teddy entdeckt. Weißt du, Anny, der Kleine wollte unbedingt mitkommen, um dich kennenzulernen und bei dir zu bleiben.« Ein Ruck ging durch Anny. Die Versuchung, vorzupreschen, das Bärchen an sich zu nehmen und in die Riege ihrer Kuscheltiere einzureihen, schien groß zu sein. Nicht groß genug allerdings, um jegliche Vorsicht über Bord zu werfen und sich an Tom vorbei zu drängen.
Tom setzte eine ernste Miene auf und nickte bekräftigend. »Ich denke, er würde sich über eine Umarmung freuen. Wie wäre das?« Ein zaghaftes Lächeln umspielte Anny Lippen. Die Hoffnung auf einen neuen Spielkameraden gab offenbar den Ausschlag. Tom griff sich seinen Rucksack, stellte ihn näher zu Anny und öffnete den Reißverschluss. Zögernd machte sie einen Schritt, nahm das Stofftier und drückte es in inniger Umarmung an sich. Ihr glückliches Lächeln war für Tom das größte Dankeschön. »Euch beide habe ich natürlich nicht vergessen.« Er ließ Susan und Cate in den Rucksack greifen und schmunzelte, als sie eifrig die Päckchen tauschten, weil sie das der jeweils anderen erwischt hatten.
»Danke!« Cate und Susan verschwanden mit ihrer Beute und ließen Anny bei ihrer Mutter zurück.
»Schön, dass du immer an sie denkst und eine Kleinigkeit mitbringst.« Lynnie setzte einen tadelnden Blick auf. »Ich glaube, inzwischen rechnen sie schon fest damit, wenn ich deinen Besuch ankündige.«
»Du meinst, sie freuen sich mehr auf die Geschenke als auf mich?«, fragte Tom mit weinerlicher Stimme. Er legte seine Hand an die Brust und ließ seine Lippen zittern, ehe er auflachte.
»Nein, natürlich nicht. Sie würden dich bestimmt genauso herzlich empfangen, wenn du nichts dabeihättest. Du bist ihr Onkel – sie lieben dich!«
»Ja, ein alter Onkel. Ah!«, stöhnte Tom theatralisch, als sein Knie beim Aufstehen knackte. Anny sah ehrfürchtig zu, wie Tom den Koffer über die Schwelle wuchtete und absichtlich gebrechlich tat.
»Na, komm endlich rein. Ein paar Tage Erholung hast du dir wirklich verdient.« Lynnie zog ihren Bruder in die Diele und schloss die Haustür.
»Ob das Erholung wird?«, fragte Tom scherzhaft und legte einen Arm um seine Schwester, während aus dem angrenzenden Wohnzimmer das Poltern und Lachen der beiden Mädchen zu hören war. Anny tapste davon und schien überaus wichtige Dinge ins Ohr ihres neuen Teddys zu flüstern.
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