Simone van der Vlugt
Thriller
Übersezt von Eva Schweikart
Saga
Am hellichten Tag
Übersezt von Eva Schweikart
Titel der Originalausgabe: Op Klaarlichte Dag
Originalsprache: Niederländisch
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 2011, 2022 Simone van der Vlugt und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728247433
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Er muss bewusstlos gewesen sein. Als er die Augen aufmacht, liegt er bäuchlings am Boden und hat einen Arm nach vorn gestreckt. Die ersten Sekunden spürt er nichts, doch als er vorsichtig den Kopf zur Seite dreht, lässt ihn ein stechender Schmerz erstarren. Plötzlich ist da auch noch ein Geruch wie nach Eisen, ein Geruch, den er bisher nur bei anderen wahrgenommen hat, aber nie bei sich selbst.
Er versucht, den Schmerz zu ignorieren, und stemmt sich mühsam hoch. Kaum steht er, erfasst ihn ein Schwindel, gleichzeitig merkt er, dass ihm etwas den Hals hinabläuft.
Erst jetzt wird ihm bewusst, dass er sich in seinem Wohnzimmer befindet, auf dem hellen Teppich, der rostrote Flecken aufweist.
Stöhnend fasst er sich an den Hinterkopf und betrachtet anschließend seine Hand. Sie ist voller Blut. Was, um Himmels willen, ist passiert?
Langsam erinnert er sich wieder. Nathalie ... Er hatte Streit mit Nathalie. Aber warum?
Robbie ... Genau, es war um das Kind gegangen. Das Babygeschrei, das ihm den letzten Nerv raubte, gellt ihm noch in den Ohren. Er war auf das Kind zugegangen und dann ...
Sein Blick bleibt an der Couch hängen, auf der Robbie gelegen hat.
Jetzt ist er weg und Nathalie auch. Jedenfalls sind sie nicht im Wohnzimmer. Wahrscheinlich hat sie sich mit dem Kleinen im Schlafzimmer eingeschlossen, um sich vor seiner Wut in Sicherheit zu bringen.
»Nathalie?«
Er hält sich den Kopf und betritt den Flur.
Keine Antwort.
Langsam geht er die Treppe hinauf, schaut oben in alle Zimmer, findet aber niemanden.
Durchs Schlafzimmerfenster sieht er, dass sein Auto nicht mehr im Hof steht. Der nagelneue Alfa Romeo, sein ganzer Stolz. Nathalie wird doch nicht etwa ... Sein Puls rast.
So schnell es die hämmernden Kopfschmerzen erlauben, geht er wieder nach unten und steuert sein Arbeitszimmer an. Dass Nathalie den Tresor geleert hat, kann er sich kaum vorstellen, doch als er den Raum betritt, werden seine Befürchtungen bestätigt. Die Tür des Wandtresors steht sperrangelweit offen. Er sieht mit einem Blick, dass er leer ist.
Mitten im Zimmer bleibt er stehen. Zehn, zwanzig Sekunden lang fühlt er nichts, absolut gar nichts. Mit geschlossenen Augen lauscht er seinem Atem. Dann ist es mit seiner Beherrschung vorbei, die Halsschlagader beginnt zu pochen. Die Kopfschmerzen werden unerträglich, doch mit der Wunde hat das nichts zu tun. Etwas drückt von innen gegen seine Schädeldecke, sucht nach einem Ausweg, den es nicht gibt.
Eine namenlose Wut erfasst ihn. Er versetzt der halb offenen Tür seines Arbeitszimmers einen so heftigen Fußtritt, dass sie aus den Angeln fliegt, und wirft dann sämtliche Gegenstände, die er zu fassen bekommt, durch den Raum.
Nachdem er seinem Zorn Luft gemacht hat, zieht er das Handy aus der Hosentasche, sucht im Adressbuch nach einer Nummer und drückt die Wahltaste.
»Nico? Ich bin’s, Vincent.« Seine Stimme klingt barsch, aber da er am Telefon immer kurz angebunden ist, fällt Nico vermutlich nichts auf.
»Vincent, was gibt’s?«
»Du musst mir helfen. Ich hatte einen Unfall. Wahrscheinlich muss die Wunde genäht werden – ich blute nämlich wie ein Schwein und ...«
»Wie ist das passiert?«
»Lass mich gefälligst ausreden, ja?«, sagt Vincent verärgert. »Ich brauche dich. Wie gesagt, die Wunde muss genäht werden.«
»Wo bist du jetzt?«
»In Brabant.«
»Wie bitte? Nicht in Amsterdam? Du kannst doch nicht erwarten, dass ich ...«
»Doch. Wenn du gleich losfährst, bist du in einer Stunde hier. Beeil dich.« Ohne die Antwort abzuwarten, beendet Vincent das Gespräch.
Nico ist einer seiner ältesten Freunde. Sie kennen sich vom Gymnasium in Roermond, wo sie seinerzeit den Laden tüchtig aufgemischt haben. Einmal hatten sie im Büro des Rektors Feuer gelegt, weil dieser ihnen wegen Betrugs einen mehrtägigen Schulverweis erteilt hatte. Allein schon das Wort Betrug für eine solche Lappalie: Sie hatten lediglich die Lösungen für eine Klassenarbeit aus der Mappe eines Lehrers geklaut.
Vincent war nach dem Vorfall endgültig von der Schule geflogen, weil er die Schuld auf sich genommen hatte. Nico konnte bleiben, machte sein Abitur und studierte danach Medizin. Inzwischen ist er wohlbestallter Arzt am Amsterdamer Uniklinikum, und Vincent versäumt es nicht, ihn immer wieder daran zu erinnern, wem er seine Karriere zu verdanken hat.
Ihm ist klar, dass Nico viel zu tun hat und nicht einfach so weg kann, aber das ist ihm egal: Soll er es eben irgendwie möglich machen.
»Was ist denn hier passiert?«, fragt Nico, als er eineinhalb Stunden später das Haus betritt und die Blutflecken auf dem Wohnzimmerteppich sieht.
»Wir hatten Streit, das Ganze ist ein bissehen aus dem Ruder gelaufen.« Vincent presst ein Handtuch an seinen Hinterkopf. Er hatte gehofft, die Blutung stillen zu können, aber vergeblich. Jedes Mal, wenn er dachte, es habe aufgehört, brach die Wunde erneut auf, und das Blut rann ihm in den Nacken.
Obwohl Nico im Umgang mit Vincent gelernt hat, sich nicht in dessen Angelegenheiten zu mischen, stehen ihm die Fragen deutlich ins Gesicht geschrieben. Er stellt sie aber nicht, sondern öffnet stattdessen seine Arzttasche.
»Na, dann sehen wir uns die Sache mal an. Setz dich, bitte.«
Vincent holt einen Stuhl vom Esstisch, setzt sich und lässt das Handtuch sinken.
Schweigend nimmt Nico die Verletzung in Augenschein.
»Stimmt, das muss genäht werden«, sagt er schließlich. »Es sieht aber schlimmer aus, als es ist.«
»Wie bitte? Hast du nicht gesehen, wie viel Blut ich verloren hab?«
»Kopfwunden bluten immer stark, deshalb sieht es gleich sehr dramatisch aus. Falls dir schwindlig oder übel ist, hast du vielleicht eine Gehirnerschütterung. Am besten, du gönnst dir ein paar Tage Ruhe und ...«
»Mir fehlt nichts«, fällt Vincent ihm ins Wort. Ihm ist zwar leicht schwindlig, aber er kann es sich nicht leisten, mit so etwas Zeit zu verplempern.
»Wo ist Nathalie?«, fragt Nico.
»Fort. Das Loch im Kopf hab ich der blöden Gans zu verdanken. Wenn ich die erwische, bring ich sie um.«
Nico ist anzusehen, dass er gern mehr erfahren würde, aber er ist vernünftig genug, keine weiteren Fragen zu stellen. Schließlich kennt er Vincents Wutanfälle zur Genüge.
Kaum ist Nico gegangen, macht Vincent sich an die Arbeit. Er rollt den Teppich zusammen und deponiert ihn in einem leer stehenden Nebengebäude. Dann packt er alles, was er für eine mehrtägige Reise braucht, in einen Rucksack und stellt ihn in den Flur. Rasch erledigt er noch ein paar dringende Telefonate, alles andere muss warten.
Das Geld im Tresor war nicht alles, was er im Haus hat. Unter einer losen Bodendiele befindet sich ein Versteck, das Nathalie nicht kennt. Er war sich nie hundertprozentig sicher, ob er ihr trauen kann, und ihm war stets bewusst, dass sie ihn eines Tages verlassen würde, und zwar nicht mit leeren Händen. Da sie die Kombination für den Tresor kennt, konnte sie sich an seinem Geld bedienen; was sie jedoch nicht weiß, ist, dass er sie problemlos orten kann. Ein GPS-Gerät wird ihn zu ihr führen.
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