Bestimmt wird man rasch ihren Namen herausbekommen. Sie nimmt sich vor, die niederländischen Nachrichten abends im Internet zu recherchieren. Die meisten Hotels bieten ja einen WLAN-Zugang an, notfalls geht sie in ein Internetcafé.
Nathalies Handy klingelt, und sie zuckt zusammen. Als sich die Freisprechanlage zuschaltet, geht das schrille Läuten in ein dezentes Summen über.
Ungläubig starrt sie auf das Display: VINCENT.
Im nächsten Moment erfasst sie Panik, und sie gerät mit dem Auto ins Schleudern.
Das ist vollkommen unmöglich! Das kann nicht sein!
Vincent ist tot – sie hat doch die heftig blutende Kopfwunde gesehen!
Jemand muss sie mit seinem Handy anrufen. Bestimmt die Polizei. Man hat ihn also gefunden und sucht bereits nach ihr!
Die Freisprechanlage summt unbeirrt weiter.
Nathalie drückt die rote Taste, und das Gerät verstummt. Gleich darauf schaltet sie auch ihr Handy aus.
Als Erstes riecht sie Blut. Der penetrante metallische Geruch bringt Julia zum Würgen. Automatisch beginnt sie, durch den Mund zu atmen.
Im Flur des Reihenhauses in der Bachstraat sprechen sie und ihr Partner Sjoerd Volleberg kurz mit den Kollegen von der Spurensicherung.
Durch die offene Wohnzimmertür fällt Julias Blick auf die Leiche eines jungen Mannes. Mit vorquellenden Augen und weit geöffnetem Mund liegt er am Boden, den Kopf in einer Blutlache. Auf seiner Stirn sitzen Fliegen mit blaugrün schillernden Flügeln.
Mit geschultem Blick sieht Julia sich im Raum um. Sie war schon öfter mit Mordopfern konfrontiert, doch der Anblick eines gewaltsam ums Leben gekommenen Menschen nimmt sie jedes Mal wieder aufs Neue mit.
»Ein Schuss in den Kopf, zwei in die Brust.« Sjoerd hat sich neben sie gestellt.
»Die Kollegen meinen, der Täter müsse von hinten ins Haus gelangt sein. Die Küchentür stand offen, weil es so warm ist«, sagt Julia.
Sie gehen an der Leiche vorbei zur Küche, wo das zweite Opfer liegt. In der Tür bleiben sie stehen und betrachten schweigend die auf der Seite liegende junge Frau. Sie ist höchstens fünfundzwanzig, hat knallrotes Haar und trägt ein Top mit Leopardenmuster und weiße, blutverschmierte Leggins. Auch auf ihrer Leiche haben sich Schmeißfliegen niedergelassen. Eine davon setzt sich auf Julias nackten Arm. Angewidert schlägt sie nach dem Insekt.
Der Täter muss schnell und äußerst skrupellos vorgegangen sein, denkt sie.
»Kopfschuss. Mit Sicherheit sofort tödlich.« Sjoerds Stimme klingt sachlich und beherrscht. Er zeigt auf einen halb gefüllten Picknickkorb auf der Arbeitsplatte. »Sieht so aus, als hätten die beiden einen Ausflug machen wollen, vielleicht zum Badesee.«
»Aber dann bekamen sie Besuch«, meint Julia. Von der Spurensicherung hat sie gehört, dass in der Spüle Teegläser standen, die mitgenommen wurden, um sie auf Fingerabdrücke und Speichelreste zu untersuchen.
Bevor Julia und Sjoerd das Haus betraten, haben sie mit der Nachbarin gesprochen, die die Leichen entdeckt und die Polizei verständigt hat. Sie hatte sich bei Kristien Moors etwas Mehl borgen wollen. Als niemand auf ihr Klingeln reagierte, war sie zur Hintertür gegangen und hatte die junge Frau auf dem Küchenfußboden gefunden.
Sie erwähnte auch, dass sie gegen halb zwölf einen silbergrauen Alfa vor der Tür gesehen habe.
Dem Täter kann der Wagen allerdings nicht gehören, denn Kristien Moors und Ruud Schavenmaker waren, wie die mitteilsame Frau berichtete, am frühen Nachmittag noch von anderen lebend gesehen worden.
Als es nach einer halben Stunde klingelt, wirft Julia einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster. Vor dem Haus steht ein Leichenwagen.
Zwei Männer kommen herein, heben den toten Ruud Schavenmaker vorsichtig an und legen ihn in einen Leichensack. Ihre Behutsamkeit zeugt von Respekt und Mitgefühl. Sie werden die Leiche in die Gerichtsmedizin bringen.
Als sie weg sind, macht Julia das Fenster weit auf. Die Schmeißfliegen umsummen sie noch eine Weile, dann verziehen sie sich ins Freie. Julia sieht ihnen nach und überlegt schaudernd, worauf sie sich wohl als Nächstes niederlassen werden.
Die Bestatter sind inzwischen in der Küche beschäftigt. Kurz darauf wird Kristien Moors’ Leiche an einer Gruppe neugieriger Anwohner vorbeigetragen.
Auch die Presse hat bereits Wind von den Morden bekommen: Draußen steht ein Pulk Reporter mit Kameras und Mikrofonen.
»Gehen wir auch, oder willst du dich noch weiter umsehen?«, fragt Sjoerd.
»Lass uns zum Revier fahren. Vielleicht liegen schon Ergebnisse von der Spurensicherung vor.« Julia lässt den Blick schweifen, um auch ja nichts zu übersehen, und folgt dann Sjoerd zur Haustür.
Draußen atmet sie ein paarmal tief durch, doch es braucht mehr als nur ein wenig frische Luft, um ihrer Übelkeit Herr zu werden.
»Alles in Ordnung?« Sjoerd legt ihr die Hand auf die Schulter.
Sie nickt und geht mit ihm an dem rot-weißen Band vorbei, mit dem die Kollegen das Haus abgesperrt haben.
Ein paar Reporter kommen auf sie zu und halten ihnen ihre Mikrofone unter die Nase: »Weiß man schon etwas über den Täter?« – »Was haben die Ermittlungen bisher ergeben?« – »Gibt es ein Motiv für die Morde?« ...
Sie beschränken sich auf Antworten wie »Kein Kommentar« und »Das erfahren Sie noch früh genug vom Polizeisprecher.«
Dann steigt Julia ins Auto. Sjoerd setzt sich ans Steuer, lässt den Motor an und schaltet auch gleich die Klimaanlage ein.
Im Eingangsbereich des Polizeireviers Roermond ist es brütend heiß. Wegen der großen Fensterfronten hat der Raum etwas von einem Gewächshaus, in dem die Temperaturen im Sommer schnell unerträglich werden.
Julia und Sjoerd gehen hinauf in den zweiten Stock. Vor dem Wasserspender im Flur bleibt Julia stehen und greift nach einem Plastikbecher.
Während das Wasser einläuft, betrachtet sie die Puppe im Regal darüber. Sie stellt einen Außerirdischen dar; ein Kollege hat sie auf dem Jahrmarkt gewonnen. Seitdem ist sie das Maskottchen der Truppe und wurde liebevoll dekoriert: mit einer Polizeimütze, Handschellen und einem ausgedienten Pistolenhalfter.
»Hallo, E. T.«, sagt Julia. »Sei froh, dass du hier deine Ruhe hast. Es gibt Tage, da denke ich, ich hätte doch lieber Kindergärtnerin werden sollen.«
E. T. verzieht keine Miene.
Julia nimmt ihren Becher und holt dann am Automaten daneben Kaffee für Sjoerd. Egal, wie heiß es ist, ihr Partner trinkt immer Kaffee. Von Wasser und Tee könne kein Mensch leben, behauptet er immer.
Mit einem Becher in jeder Hand betritt Julia das Büro, das sie mit drei Kollegen teilt.
Koenraad und Ari sind damit beschäftigt, Protokolle zu tippen. Beide sehen auf, als Julia das Zimmer betritt, Ari rollt seinen Stuhl etwas zurück und fragt: »Na, gibt’s was Neues?«
Julia stellt den Kaffeebecher auf Sjoerds Schreibtisch und trinkt einen Schluck Wasser.
»Wir haben keinerlei Hinweise auf einen Einbruch gefunden«, sagt sie. »Die Hintertür war offen, sodass der Täter problemlos ins Haus konnte. Auffällige Fußspuren hat er leider nicht hinterlassen.«
»Olle Kamellen – die Tatortfotos hat uns die Spurensicherung schon geschickt. Ich wollte eigentlich wissen, ob es was Neues gibt.«
»Ach so ...« Julia zieht eine Grimasse und setzt sich an ihren Computer.
Dass Ari nicht zu ihren größten Fans gehört, weiß sie. Anfangs dachte sie, es läge daran, dass sie eine Frau ist, aber damit scheint es nichts zu tun zu haben. Bei der Kripo arbeiten noch mehr Frauen, und die behandelt Ari durchaus zuvorkommend.
Sjoerd hat ihr einmal bei einem gemeinsamen Kneipenbesuch erklärt, Ari könne nicht damit umgehen, dass sie jung und ehrgeizig sei. Er sei jahrzehntelang Streife gefahren, bevor seine Bewerbung bei der Kripo Erfolg hatte. Und dann sei sie gekommen und schon nach kurzer Zeit auf eine Fortbildung für zukünftige Führungskräfte geschickt worden. Ari fühle sich bedroht, sozusagen auf den Schwanz getreten, so Sjoerd.
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